Bild: Pixabay
„Atme mal tief ein! Die frische Luft tut so gut!“
Meine sechsjährige Tochter Luisa, Lu genannt, verzog ihre vollen Lippen zu einer Schnute, fächelte mit den Händen und schöpfte lautstark Atem.
„Mir geht’s genauso wie vorher“, entgegnete sie, als wäre es ein Vorwurf. Wie nannte man die Trotzphase, die sie gerade durchlief? Bestimmt gab es dafür einen Namen.
Mit Mama einen Osterspaziergang zu machen, war so was von uncool, sagte mir ihre ganze Körperhaltung. Es war Samstagnachmittag, ich hatte eingekauft, die Wohnung geputzt und hatte keine Lust, mit meiner Tochter eine Folge „Miraculous“ anzusehen, wie es ihr vorschwebte. Stattdessen misshandelte ich ihre Kinderseele aufs Gröbste, indem ich von ihr verlangte, mich auf einem Spaziergang am Waldrand zu begleiten. Ich hatte versucht, ihr zu erzählen, der Osterhase brächte nur den braven Kindern etwas, aber Fräulein Neunmalklug erklärte mir, das wäre der Nikolaus. Der Osterhase sei viel netter, besonders zu ihr, da sie an einem Ostersonntag geboren war. Das wäre also ähnlich wie mit Geburtstagsgeschenken, auch wenn das Datum bisher nicht wieder auf den Feiertag gefallen war. Ihrer Meinung nach war das eine spezielle Art von Geburtstag, und da galt keine Voraussetzung, brav zu sein. Ihre österliche Geburt war dafür verantwortlich, dass ich sie in liebevollen Momenten „Bunny Lu“ nannte. Aber nicht heute.
Morgen würden ihre Großeltern vorbeikommen, Osternester bringen, die der Hase nachts bei ihnen für sie abgestellt hatte, und mich wenig subtil über mein Liebesleben ausfragen. „Das Kind braucht einen Vater!“, lag mir meine Mutter in den Ohren.
Das Kind hatte einen Vater, doch dieser war verschwunden, ehe ich bemerkt hatte, dass meine Regel ausblieb. Sie war ohnehin oft unregelmäßig. Wir hatten gestritten, darüber, dass er ein Vagabundenleben führen wollte und ich andere Vorstellungen von einer Beziehung hatte. Dummerweise brach er wirklich alle Brücken hinter sich ab. Zuerst war ich beleidigt und meldete mich nicht bei ihm. Als es wichtig wurde, war er unter der bisherigen E-Mail-Adresse und Telefonnummer nicht mehr erreichbar, Internetrecherchen halfen nicht weiter. Mit dem konsequenten Schritt, künftig als Zauberkünstler seinen Lebensunterhalt zu bestreiten, hatte er einen Künstlernamen angenommen, den ich nicht kannte. In dem Sommer, den wir zusammen verbrachten, machte er einen langen Urlaub hier am See, ich lernte weder Freunde noch Familie kennen.
Wahrscheinlich wäre er nicht mehr als eine wehmütige Erinnerung, gäbe es mein kleines Hasenmädchen nicht. Meine Eltern waren fassungslos, als ich ihnen von der Schwangerschaft berichtete. Den Mann, der dazu nötig war, hatten sie nie kennengelernt. Warum ich das Kind bekommen wollte, war für sie unverständlich, doch die Alternative war für mich nicht vorstellbar. Ich brach das Studium ab, und sie nahmen mich zurück ins Familienunternehmen. Ich half beim Obstanbau und dem Handel damit. In der Saison verkaufte ich die Früchte aus einem Anhänger am Straßenrand heraus. Meine Träume waren andere gewesen, aber wir kamen über die Runden, Lu und ich. Bald würde sie wieder im Erdbeerenkostüm neben dem Wagen spielen, während ich die großen, süßen Beeren Pendlern zum Kauf anbot. Die Ernte dieses Jahr war vielversprechend, die Sonne hatte sich oft sehen lassen. Erdbeeren. Ohne sie gäbe es Lu nicht.
Zum Glück waren Papa und Mama nicht so verstockt, sich von mir abzuwenden, als ihre Enkeltochter mit dunkler Haut zur Welt kam. Nicht, dass sie rassistisch waren, aber irgendwie hatte ich es nicht geschafft, vor der Geburt zu erwähnen, dass der Großvater des Kinds aus Ghana kam, wie mir meine Sommerliebe erzählt hatte. Das Verschweigen dieser wesentlichen Information war nicht sonderlich vertrauensfördernd.
Er selbst war bei seiner Mutter in Freiburg aufgewachsen und sprach in wunderbarem, badischem Singsang, den man bei seinem Aussehen nicht erwartete. Damit hatte er mich auf sich aufmerksam gemacht, als er auf dem Heimweg von der Seepromenade an einem Samstag Erdbeeren bei mir kaufte. Obwohl ich studierte, half ich dort am Wochenende aus. Ich musste lachen, als er im breiten Dialekt den Geschmack der Früchte lobte, wir kamen ins Gespräch. Am Sonntag war er wieder da und ging nicht an den See, bevor ich Zeit hatte, ihn zu begleiten. Frühlingsgefühle führten zu der kurzen und heftigen Sommerliebe. Daraus wurde ein süßes, kulleräugiges Baby. Und aus dem Wonneproppen wurde eine bockige Vorschülerin, die am liebsten zuhause auf dem Sofa saß.
Auf einmal blieb Lu wie eingefroren stehen.
„Mama“, flüsterte sie überwältigt, „da ist er tatsächlich!“
„Wer? Was? Wo?“ Ich war verwirrt.
Sie deutete still auf die Wiese neben uns. Ich lachte verblüfft auf. Ausgerechnet am Tag vor Ostern sahen wir einen braunen, langohriges Feldhasen ein paar Meter von uns entfernt sitzen. Auf mein Geräusch hin wandte er den Kopf, sah mich einen Moment lang mit großen Augen und zuckender Nase an, um dann endlich das zu tun, was ich die ganze Zeit erwartet hatte: Er hoppelte los.
Womit ich nicht rechnete, war, dass Bunny Lu hinterher spurtete. In diesem Augenblick der Unaufmerksamkeit verpasste ich die Chance, sie aufzuhalten. Denn auch wenn das natürliche Habitat meiner Tochter vor dem Fernsehgerät zu sein schien, konnte sie rennen wie der Wind und hatte Ausdauer wie … na ja, wie ein Hase eben.
Dazu kam, dass ich damit rechnete, Meister Lampe würde uns schnell entwischen, denn normalerweise hatten Menschen gegen diese Tiere keine Chance. Also lief ich erst einmal halbherzig hinterher. Lu andererseits war offensichtlich fest entschlossen, sich nicht abschütteln zu lassen, der Hase dagegen schien nicht seine volle Kraft auszuschöpfen. Im Gegenteil, manchmal hielt er beinahe an, bis die Verfolgerin aufholte.
Um an den beiden dranzubleiben, musste ich mich ins Zeug legen. Ich war alles andere als eine Sprinterin, so dass meine Lunge bald zu brennen begann.
„Mistvieh!“, dachte ich. „Verschwinde doch endlich!“
Als er sich dem Waldrand näherte, wuchs meine Zuversicht. Zwischen den Bäumen würde Lu ihn schnell aus den Augen verloren haben.
Wieder durchkreuzte er diese Wunschvorstellung. Ich konnte ihn nicht mehr sehen, meine kleine Couch-Potato sehr wohl noch. Wahrscheinlich blieb er seiner Linie treu und wartete ab, bis sie ihn fast erreicht hatte.
„Lu, lass ihn doch!“ Mein Schrei störte die Ruhe des Waldes, ansonsten brachte ich nichts weiter hervor. Ich hielt mir die stechende Seite.
„Gleich habe ich ihn!“, rief sie über die Schulter zurück.
„Nein“, keuchte ich. Ob es ein Befehl an die juvenile Jägerin oder eine Prophezeiung war, wurde mir nicht klar.
„Doch! Dann finde ich vielleicht sein Geschenke-Lager und kann mir was aussuchen, bevor er es morgen verteilt!“
Warum nur glaubte sie noch immer an den Osterhasen? Richtig, es war ja niedlich und herzerwärmend, wenn ein Kindergartenkind das tat. Ich verfluchte mich für diese Schwäche. Hätte ich die Puste dafür, ich würde sie jetzt sofort aufklären. Doch nun brauchte ich den Atem, um sie nicht zu verlieren.
Vor meinen Augen begann es zu flimmern, die Beine brannten. Ich machte viel zu wenig Sport! Ein paarmal im Jahr zum Skifahren zu gehen, im Sommer der eine oder andere Radausflug und Yoga in der Volkshochschule gaben einem nicht genug Kondition, um eine Sechsjährige auf der Jagd nach dem Osterhasen einzuholen.
Ha! Hier konnte ich ihr den Weg abschneiden! Einmal quer durchs Unterholz und mir die Haken des Tiers zunutze machen, und bald hätte ich sie. Ich streckte meinen Arm nach der Kapuze ihrer mintfarbenen Jacke aus …
RUMMS! Mein Knöchel wurde von etwas festgehalten, und ich fiel vornüber. Mit den Händen auf beiden Seiten meines Kopfes fing ich viel Schwung ab, doch das brachte mir einen stechenden Schmerz links ein. Trotzdem landete meine Nase unsanft im Herbstlaub des vergangenen Jahres. Der modrige Geruch war abstoßend. Die Kniescheiben, auf die ich gefallen war, brannten. Tränen schossen mir in die Augen.
„Mama!“, hörte ich Luisas Stimme.
„Alles gut, ich lebe noch“, versuchte ich, sie zu beruhigen. Letzteres war zweifelsohne richtig, beim ersten Teil war ich mir nicht sicher. Langsam beruhigte sich der in die Höhe geschossene Pulsschlag wieder.
Sportschuhe erschienen eiligen Schrittes auf meiner Augenhöhe, vermutlich mindestens Größe 46.
„Geht es Ihnen gut?“, fragte eine erschrockene Männerstimme. Sie kam mir von Klang und Aussprache bekannt vor. Aber nein, ich sah Gespenster. Trotzdem blickte ich nicht nach oben, damit die Illusion bestehen blieb, er wäre zurück.
Eine Hand streckte sich mir hilfreich entgegen, die Haut von einer Farbe wie Milchschokolade, samtig schimmernd. Mein Herz galoppierte ein weiteres Mal an. Die Sinne gaukelten mir bestimmt etwas vor. Noch immer wollte ich nicht nachsehen, um den Augenblick der Enttäuschung hinauszuzögern.
„Können Sie aufstehen? Brauchen Sie Hilfe?“ Allmählich war zwischen den Worten im hübschen Singsang Stress zu erkennen.
„Nein, nein, ich schaffe das.“
Ich erhob mich mit zitternden Beinen und unter Zuhilfenahme meines rechten Arms schwerfällig aus dem Laub. Vorsichtig betastete ich das linke Handgelenk. Es schmerzte zwar, schien jedoch nicht gebrochen oder verstaucht zu sein. Das Gesicht hielt ich gesenkt. Ich glaubte nicht wirklich daran, aber falls, falls … was würde ich tun?
Lu warf sich auf mich, umarmte den Oberschenkel.
„Nanu, wo kommst du jetzt her?“, fragte der Mann.
„Na, von hier, ich stand da doch die ganze Zeit!“
„Oh, das tut mir leid, da habe ich dich wohl vor Aufregung um deine Mama übersehen. Wie heißt du denn?“
„Lu Krämer, und ich bin am 31. März sechs Jahre alt geworden.“
„Das ist lustig, ich heiße auch Lu, von Lukas.“
Ich riss meinen Kopf nach oben und sah ihn an. Dann schlug ich die Hand vor den Mund.
Sein Gesicht war schmäler geworden, die Linien klarer und härter. Doch das freundliche Lächeln, bei dem er seine Perlenzähne sehen ließ, erreichte noch immer die Augen. Als er mich näher betrachtete, verschwanden die Zähne allerdings hinter zum O geformten Lippen.
„Nele? Du?“
Ich konnte nichts sagen, doch meine Tochter war entzückt, ihr Gespräch fortzusetzen.
„Ja, das ist meine Mama Nele Krämer, die ist achtundzwanzig Jahre alt. Wie alt bist du?“
„Einunddreißig“, wisperte ich.
„Kennt ihr euch?“, fragte sie verwundert.
„Ja“, antwortete ich. „Das ist lange her.“
Ich befürchte, gleich in Ohnmacht zu fallen.
„Sechseinhalb Jahre“, stellte er richtig.
„Da war ich noch nicht auf der Welt.“
Ich sagte nichts dazu. Er rieb sich das Kinn und ich konnte sehen, wie sich die Erkenntnis in seinem Gesicht ausbreitete. Das Geburtsdatum, die dunkle Haut, der Name.
Er hob die Augenbrauen an, bis sie beinahe den Haaransatz erreichten, dann runzelte er die Stirn, blinzelte heftig, um mich am Ende fragend anzusehen. Ich nickte.
Sein Brustkorb hob und senkte sich, dann schüttelte er den Kopf. Früher hatte er die Haare kurz getragen, nun flogen die Rastazöpfe, die er im Nacken zusammengebunden hatte. Ob es geklappt hatte und er als Zauberkünstler seinen Lebensunterhalt verdiente? Da mochte das auffällige Äußere von Vorteil sein.
Er ging in die Knie und sah mein Bunny Lu genau an.
„Deine Mama und ich waren mal Freunde. Vielleicht können wir alle drei ja wieder Freunde werden. Hättest du dazu Lust?“
Lu sah ihren Vater an und musterte ihn. Er schien die Prüfung zu bestehen, denn danach grinste sie und sagte: „Okay.“
„Und du?“ Er sah mich fragend an.
Meine Hände zitterten und ich musste mich mehrfach räuspern, bis meine Stimme Worte hervorbrachten. „Was tust du hier?“
Ich wünschte mir, er wäre unseretwegen gekommen, doch er konnte nicht von Luisas Existenz wissen.
„Diese Woche habe ich einen Auftritt hier im Freizeitpark und sammle ein paar Naturmaterialien ein. Ich spielte mit dem Gedanken, dich zu suchen, war aber unsicher, weil ich nicht wusste, wie du reagieren würdest, und ob du überhaupt noch an mich denkst. Nun bin ich froh, dass wir uns sehen, nicht nur wegen … es ist unfassbar! Warum weiß ich davon nichts?“
„Ich konnte dich nicht erreichen.“
„Oh!“ Er stieß angespannt die Luft aus. „Ich danke dem Schicksal, dass wir uns begegnet sind.“
Ich nickte. Wie sahen uns an und uns beiden war klar, wir hatten viel zu bereden.
Ein Rascheln im Laub lenkte mich ab. Einen Augenblick lang war mir, als würde der Hase direkt in meine Augen sehen. Dann drehte er sich um und rannte in weiten Sätzen davon.
Bestandteil des Osterspecials 2019 des Autoren-Adventskalenders.