Prolog
Benita, 3 Jahre
Mama saß auf einer Bank am Spielplatz. Ihr Gesicht war schön. Die Striche auf der Stirn waren weniger. Auch die neben ihrem Mund. Außerdem sah sie nicht so traurig aus. Auf einem Bild würde sie immer noch keinen Mund wie bei einem Smiley malen, aber nicht mehr verkehrt herum, sondern ganz gerade. Das gefiel ihr.
Ein anderes Mädchen spielte im Sand. Benita ging mal gucken, was die machte. Sie grinste stolz. Ihre Türme waren echt schön, ganz glatt und ohne Löcher. In der Mitte machte sie mit der Schaufel einen Burggraben. Da fehlte Wasser. Benita nahm ihren Eimer und wollte was holen. Dann schaute die andere so komisch. Auf einmal war Beni stinksauer. Die nahm ihr alles weg! Benitas Sachen!
Beide schrien, dann hauten sie sich. Ihre Mama und die von der blöden Kuh rannten zu ihnen. Sie zogen sie voneinander weg.
„Vielleicht erklären Sie Ihrem Kind nochmal den Unterschied zwischen Mein und Dein“, fauchte die fremde Mama. Sie sah Benita an, als ob sie sie nicht leiden konnte. Beni fand sie doof. Sie wollte doch nur mitspielen! Aber jetzt waren alle sauer und Mama dazu schon wieder so traurig.
„Komm, Beni, wir gehen nachhause.“
Dabei wollte sie doch nur spielen. Aber so war das jedes Mal. Doofer Spielplatz.
Benita, 23 Jahre
Ihre Beine fühlten sich leicht an, als sie die Treppen zu der kleinen Wohnung im dritten Stock des Altbaus erklomm. Anfangs hatte sie immer zwei Stufen auf einmal genommen, jetzt, kurz vor Schluss, wurde sie langsamer. Vielleicht sollte sie mehr joggen, damit sie nicht so schnell außer Puste kam. Philipp, ihrem Freund, würde das gefallen. Zusammen machte es viel Spaß, obwohl Benita eigentlich nicht so begeistert von Sport war. Sie dachte daran, was für ein warmes, beschützendes Gefühl sie von ihm vermittelt bekam.
Irgendwas war heute aber anders. Mit jedem Schritt, der sie der Türe näher kam, wurde ihre Nervosität schlimmer. Sie blieb stehen und legte ihre flache rechte Hand auf die Brust. Woher kam dieser Druck?
Es war, als würde die Beziehung sie erdrücken. Das war alles zu viel. Wo war ihr Freiraum? Einfach mal alleine losziehen oder mit ihren Freunden, statt immer den Kerl mitzunehmen, der sich an sie klammerte? Je näher sie der Tür kam, desto stärker wurden die Gefühle.
Philipp saß mit gefalteten Händen am Küchentisch und sah sie an, als würde er ein Gespräch suchen.
„Wir müssen reden!“, begann sie. Er blinzelte, war verwirrt. „Ach so?“
„Ich kann das nicht mehr! Mir wird unsere Beziehung zu eng. Uns gibt es nur noch im Doppelpack, als wären wir zwanzig Jahre verheiratet. Ich bin jung und möchte ungebunden leben! Auch mal einen Partner neu kennenlernen und Schmetterlinge im Bauch haben. In ein paar Jahren mag ich das vielleicht, wenn der andere mich in- und auswendig kennt. Aber jetzt will ich das noch nicht!“ Sie atmete schwer aus. „Ich finde, wir sollten uns trennen!“
Sie war sich sicher, das Richtige zu tun. Philipp sah sie kurz mit ausdruckslosem Gesicht an, dann folgte ein liebevolles Lächeln.
„Das ist der Wahnsinn!“, sagte er leise. Eine Welle der Zuneigung schwappte über Benita. War die Trennung wirklich so eine gute Idee? Ja, unbedingt! Sie sollte auf ihren Bauch hören.
„Weißt du, genau darüber wollte ich auch mit dir reden. Eben über das alles! Wir haben gleichzeitig dieselben Gedanken und Gefühle. Deshalb: Ja, wir sind uns zu nah dafür, dass wir erst seit drei Jahren ein Paar sind. Ich bin so froh, dass du kein Drama machst!“
Er küsste sie auf die Stirn, ging ins Schlafzimmer und kam kurz darauf mit einem Koffer und einem Wäschekorb zurück. Darin lagen Bücher, CDs, ganz oben sein Laptop und zwei Paar Schuhe. Erstaunlich, wie schnell er seine Sachen gepackt hatte.
„Ich ziehe zu meinem Bruder, bis ich was Eigenes gefunden habe.“
„Musst du das nicht zuerst mit ihm besprechen?“, wollte sie verwundert wissen.
„Habe ich schon. Wie gesagt, mich plagen dieselben Ideen. Vielleicht ist es etwas überstürzt, aber wenn wir beide so empfinden“, er lächelte sie schief an, „dann ist es bestimmt der richtige Moment. Nachdem du einen unbefristeten Vertrag mit deiner Firma hast, kommst du mit der Miete klar, denke ich. Lebewohl. Es war eine außergewöhnliche Zeit mit dir. Du wirst für mich immer eine besondere Person sein.“
Sie starrte ihn an. Was passierte hier? Er hob die Hand, winkte zum Abschied, drehte sich um und ließ die Tür ins Schloss fallen.
Benita blieb zurück und hatte das Gefühl, als würde sie mit dem Kopf durch eine Wasseroberfläche stoßen und auf einmal alles klar sehen. Hatte sie sich nicht eben auf der Treppe noch darauf gefreut, Philipp zu treffen, ihn zu umarmen, etwas mit ihm zu unternehmen? Mit welchen Freunden wollte sie sich verabreden? Er hatte die Kontakte in ihre Verbindung gebracht, sie war eine Einzelgängerin. Es gab nur zwei Frauen in ihrem Leben, die sie regelmäßig sah. Sie schüttelte sich wie ein nasser Hund. Woher war dieser plötzliche Umschwung gekommen?
Benita, 27 Jahre:
Ein weiterer Arbeitstag. Sie arbeitete an der Statistik. Ihr Kopf war beschäftigt, ihr Intellekt gelangweilt.
Ihre Gedanken schweiften zu den Figuren der Serie, die sie auf Netflix gerade am liebsten mochte. Erst gestern hatte sie den Liebeswirrwarr der Freundinnen beobachtet, ihre Schildkröte neben sich auf der Couch. Esmeralda schien es auf dem Möbelstück zu gefallen. Vielleicht lag es aber auch an den Salatblättern, mit denen ihre Herrin sie nebenbei fütterte. Dass Benitas eigenes Liebesleben gerade kaum existent war, verdrängte sie. Zumindest das Tier machte ihr keinen Ärger. Sollte die Sehnsucht nach einem Mann übermächtig werden, fände sie im Nachtleben ihrer Stadt sicher eine Begleitung für ein Mal. Mit ihren hellroten Haaren, den grünen Augen und der großen, schlanken Statur fiel ihr das nicht schwer. Von ernsthaften Beziehungen hatte sie gerade genug.
Die Geschichten im Fernsehen waren amüsant zu beobachten. In der WG war etwas los. Sie selbst empfand ihr Leben derzeit zwar als friedlich, aber auch als öde. Obgleich es anders war, als das der Menschen um sie herum. Doch auf diese Art der Aufregung verzichtete sie allzu gerne. Sie bemerkte, wie sie seit einigen Minuten die immer gleichen Zahlen auf ihrem PC angesehen hatte. Ärgerlich darüber, die Konzentration zu verlieren, versuchte sie, an nichts anderes mehr zu denken.
Ihre Kollegin Nicole kam aus dem Büro des Chefs. Gedankenverloren ging sie die Post durch.
„Guten Morgen, Nicki! Wie geht es dir? Alles klar?“
Sie mochten sich bereits seit ihrer gemeinsamen Ausbildungszeit zur Industriekauffrau. Als sie beide in der Einkaufsabteilung landeten, freuten sie sich. Sie waren sich sympathisch, ohne enge Freundinnen zu sein. Ein Thema für ein paar Sätze geselligen Smalltalks fanden sie immer.
Nur nicht heute. Nicole sah sie nicht an, brummte etwas Unverständliches und ging aus dem Zimmer. Das war noch eine Steigerung zu ihrer in letzter Zeit sowieso schon schlechten Laune.
Benita runzelte die Stirn. Was war mit der Kollegin los? Doch dann war die Enttäuschung über Nickis kühle Reaktion plötzlich wie weggeblasen. Eine neue Empfindung verdrängte alles.
Unmöglich konnte sie länger hier arbeiten. In dieser Firma hatte sie keine Zukunft mehr. Der Druck auf ihrem Brustkorb erschwerte das Atmen, sie bekam kaum Luft.
Sie musste kündigen. Jetzt war der Moment. Heute, dem letzten Tag, an dem sie mit ihrer Kündigungsfrist von sechs Wochen zum Quartalsende aussteigen konnte. Als sie sich vorstellte, wie sie dem Chef das Schreiben vorlegte, entspannte sie sich. Endlich schien der Sauerstoff ihre Lungen zu erreichen. Die Aussicht, in einer anderen Firma einen Neuanfang zu wagen, ließ sie lächeln. Sie öffnete ein neues Dokument. Oben Namen und Anschrift, adressiert an ihren Arbeitgeber, zu Händen ihres Chefs.
„Sehr geehrter Herr Friedrichs, hiermit kündige ich mein Arbeitsverhältnis fristgerecht zum 30.6.2015. Für die angenehme Zusammenarbeit bedanke ich mich. Mit freundlichen Grüßen, Benita Kirsch.“
Eine Stunde später verließ sie beschwingten Schrittes das Bürogebäude. Neben ihr ging Nicole, nun mit ebenso guter Laune. Was war denn los?
„Du bist wieder besser drauf, Nicki? Das ist schön. Die letzten Monate schienst du bedrückt zu sein. Und heute Morgen ganz besonders.“
Das war ihr übliches Understatement. Vielmehr kannte sie Nicoles Gemütslage besser, als sie wollte und es der anderen bewusst war. Im Allgemeinen bezeichnete man so etwas als Empathie, doch Benita wusste, in ihrem Fall ging es weiter. Wenn sie konnte, verdrängte sie dieses Bewusstsein aber. Normal zu sein, war ihr größter Wunsch.
Die Kollegin strahlte sie an.
„Sieht man mir das an?“
„Na sicher. Du lächelst, das war in letzter Zeit selten.“
Dazu kam, dass Benita ihre Glückseligkeit vor sich sah, als könnte sie sie berühren. Es war ähnlich, wie die Wolken in einem Flugzeug vor sich zu haben: als müsse man nur die Hand ausstrecken, um die zarte, kühle Textur streicheln zu können. Der Kopf wusste, das war nicht der Fall. Aber irgendwann wurden die Augen von dem regelmäßigen Brummen der Turbinen schwer, Schlaf übermannte einen und der Verstand gab die Kontrolle ab. Dann schienen sie nur einen Griff entfernt, es war beinahe, als spürte man die weißen, weichen Gebilde. Das konnte sie unmöglich jemandem erklären, doch das Gefühl, das einen überfiel, wenn man nicht mehr dachte, war vergleichbar mit ihrem Gespür, was ihr Gegenüber gerade empfand. Allerdings fragte Nicole nichts, sondern strahlte sie arglos an.
„Vor dir kann ich es sowieso kaum verbergen. Stimmt, ich fühle mich toll. Ich habe dem alten Friedrichs heute meine Kündigung in die Hand gedrückt. Chakka!“ Sie streckte eine Siegerfaust zum Himmel. „Anfang Juli fange ich bei der Ludwig GmbH als Chefeinkäuferin an!“
Benita versuchte, sich für die Kollegin zu freuen, doch das Entsetzen kroch in Eiseskälte an ihrer Wirbelsäule hinauf. Konnte es ein Zufall sein, dass sie selbst diesen Schritt auch gerade getan hatte? Allerdings ohne eine interessante Stelle in der renommiertesten Firma der Gegend in Aussicht.
Nicole verstand ihr erschrecktes Gesicht anders.
„Es tut mir leid, das Team hier zu verlassen.“ Sie schenkte ihr einen traurigen Dackelblick. „In den letzten Monaten war es ein Elend. Wenn ich mir die Zahlen ansehe, geht das nicht mehr lange gut. Es wird Zeit für etwas Neues.“ Sie standen an der Stelle, an der sich ihre Wege trennten. Ungewohnt herzlich umarmte Nicole sie.
„Freu dich doch für mich!“
Benita strengte sich an. Während sie daran arbeitete zu lächeln, streichelte sie der Kollegin freundschaftlich über die Schulter.
„Wie schön für dich, das hört sich toll an“, brachte sie zuwege. „Ich wünsche dir, dass es ein guter Schritt ist.“
„Bestimmt!“, rief Nicole „Wir beide müssen uns dann unbedingt ab und zu auf einen Kaffee treffen.“
Sie nickte, obwohl sie sich sicher war, mehr als ein oder zwei Verabredungen kämen nicht zustande. Dazu bedeutete sie Nicki zu wenig. Wie hätte es auch anders sein können? Sie hatte die junge, impulsive und lebhafte Frau kaum an sich herangelassen. Somit würde ein weiterer Mensch aus ihrem Leben verschwinden.
Das alles verbarg sie hinter einer unbeteiligten Miene. Nicole verzog etwas enttäuscht die Mundwinkel und winkte ihr noch einmal zu, ehe sie in die Straße einbog, in der sie geparkt hatte.
Benitas Kopfhaut prickelte. Sie ließ sich auf die Bank im Wartehäuschen der Bushaltestelle fallen. Ihre Beine zitterten. Verflixt. Sie versuchte, sich zu sortieren. Hatte sie ihre eigenen Empfindungen gefühlt oder Nicoles? Sie war gerade bei Herrn Friedrichs gewesen und vermutlich noch aufgewühlt von der Begegnung. Bis zum Morgen hatte Benita keinen Gedanken in diese Richtung verschwendet. Auch sie hatte bemerkt, dass die Umsatzzahlen nachgelassen hatten. Das Schreiben war jedoch ein spontaner Entschluss gewesen, ein drastischer Schritt, ohne dass sie eine andere Stelle gesucht und gefunden hatte. Ihre Gefühle oder Nicoles? Sie wusste es, wollte es aber nicht wahrhaben.
Entgegen ihren Willen überfielen sie die Erinnerungen an ihr verkorkstes Liebesleben. Sie erinnerte sich an die Trennung von Philipp und ihre Empfindungen danach. Sie fühlte sich verlassen und leer und wusste nicht, woher der Impuls gekommen war. Geahnt hatte sie es. Es war der Grund, weshalb sie bereits als Kind schwer Freunde fand. Wer zur gleichen Zeit zornig, traurig, ängstlich, neidisch war wie sein Gegenüber, führte ein konfliktreiches Leben. Ihr Vater und ihre Tante, die sich nach Mutters Tod um sie kümmerten, waren damit überfordert gewesen. Sie hatten versucht, Benitas Selbstbeherrschung zu stärken. Der erste Tipp lautete, sie solle auf zehn zählen, bevor sie einem Impuls nachgab. Am Anfang kam sie bis vier, später zumindest bis sieben. Dann kamen die Atemübungen dazu, autogenes Training, progressive Muskelentspannung. Sogar einen Meditationstrainer bezahlte ihr Vater für ein Jahr. Es wurde besser, nichts half wirklich.
Das Ende der Beziehung zu Philipp war nur die erste von mehreren närrischen Trennungen gewesen.
Im Bus ließ sie ihre Stirn gegen die Fensterscheibe fallen. Sie betrachtete die Reflexion. Ihr Gesicht war noch heller als sonst, ihre grünen Augen waren aufgerissen. Es war nur Einbildung. Übersinnliche Wahrnehmungen gab es nicht. Konnte es nicht geben. Das alles war nur ihre Launenhaftigkeit, ihre Unausgeglichenheit, ihre Impulsivität. Sie brauchte eine Therapie, keinen Meditationstrainer.
Ihre Mutter fiel ihr ein. Eine Gänsehaut lief ihr über den Rücken. Benita sagte das Einmaleins auf, beginnend bei der Fünfer-Reihe.
Das Blut rauschte in ihren Ohren. Sie trug eine sorgfältig gebügelte weiße Bluse, der schmale Rock endete knapp über dem Knie, die Pumps hatten Absätze. Sie war stärker geschminkt als sonst, damit die dunklen Schatten unter ihren Augen nicht auffielen. Immerhin hatte ihr die Schlaflosigkeit genügend Zeit verschafft, um früh aufzustehen und in Ruhe ihren Bob zu waschen. Der Mund war trocken.
„Herein!“
Sie trat ins Büro des Chefs. Ihre Zunge fuhr über ihren Gaumen. Die Lockerungsübung half.
„Herr Friedrichs, ich habe ein seltsames Anliegen. Es tut mir sehr, sehr leid …“
Er wies auf den Besucherstuhl vor seinem wuchtigen Schreibtisch.
„Wollen Sie früher gehen, Frau Kirsch? Sofern Sie sich bereits Gedanken gemacht haben, wie Sie Ihre Arbeit übergeben können, finden wir eine Lösung. Das ist die übliche Vorgehensweise in so einem Fall.“
Die kleinen Augen unter der hohen Stirn betrachteten sie freundlich.
Unruhig rutschte Benita auf ihrem Stuhl herum.
„Nein, das ist es nicht … Ich wollte Sie bitten, meine Kündigung in den Müll zu werfen. Es war eine dumme Handlung im Affekt. Ich weiß gar nicht, was in mich gefahren ist. Die Aufgabe gefällt mir, ich möchte weiter hier arbeiten.“ Vor allem das Geld auf dem Konto am Ende des Monats mag ich, fügte Benita in Gedanken hinzu. Sie hoffte, sie sah mitleiderregend, aber nicht zu flehend aus. Das Blut in ihren Adern klang im Kopf wie ein rauschender Fluss.
Herr Friedrichs betrachtete sie mit hochgezogenen Augenbrauen und stieß hörbar die Luft aus.
„Ich hatte Sie bisher nicht als wankelmütig eingeschätzt.“ Er legte eine dramatische Pause ein. Dann ergänzte er mit bedauerndem Gesichtsausdruck: „Ich fürchte, das kann ich nicht tun. Sehen Sie, die Geschäftsleitung hatte mich letzte Woche vor die Aufgabe gestellt, in unserer Abteilung zwei Mitarbeiter abzubauen. Ich machte mir Gedanken, wem wir einen Aufhebungsvertrag anbieten könnten, bevor wir über Sozialauswahl und Kündigungen sprechen müssen. Offen gesagt fällt es mir schwer, in unserem Team Leute mit schlechten Leistungen auszumachen. Ich würde mich ungern von jemanden trennen. Aber ich wusste ja, dass gestern Kündigungstermin war. Als ich dann tatsächlich zwei Kündigungen vorliegen hatte, war ich erleichtert: Ich musste keine Trennungsgespräche mit Mitarbeitern führen, die das nicht verdienen, die Firma kommt um Abfindungszahlungen herum. Ich fürchte, ich bin nicht bereit, einen anderen Weg einzuschlagen, solange es eine Alternative gibt. Um ehrlich zu sein, Frau Kirsch, diese Aktion, im Affekt zu kündigen, qualifiziert Sie nicht zu meiner zuverlässigsten Mitarbeiterin. Ich bedaure.“
Mittwoch
In der Bank
Enissa:
Enissa Altinay nahm an ihrem Schreibtisch Platz. Sie war zufrieden. In dieser Geschäftsstelle der Bank hatte sie während ihrer Ausbildungszeit mehrfach Einsätze gehabt und kannte sich aus. Die Kollegen und Kolleginnen hießen sie heute nach ihrem Urlaub herzlich willkommen. Sie wussten, sie konnten sich auf sie verlassen. Die Kunden mochten sie, weil sie immer freundlich und zuvorkommend war. Enissa setzte um, was ihre Mutter ihr beibrachte: „Işi gör“ – sieh die Arbeit. Das brachte ihr Zuneigung und gute Beurteilungen ein. Sie war stolz darauf, neben ihrem Familienleben auch im Beruf Anerkennung zu erhalten.
Der Tag lief gemütlich an, ein heißer Ferientag Mitte August. Nur wenige Leute kümmerten sich derzeit um ihre Bankgeschäfte. Am Vormittag aktualisierte sie ihren Ausbildungsnachweis, bediente ein paar Kunden, beteiligte sich an den Schwätzchen der Kolleginnen. Die Mittagszeit verbrachte sie zuhause. Die Pause ihrer Mutter begann eine halbe Stunde später als ihre, dauerte dafür länger. Enissa bereitete für ihre jüngeren Brüder das Mittagessen zu, die kurz vor Mama nach Hause kamen. Direkt im Anschluss an die Mahlzeit ging sie zurück in die Bank und die Jungs in die Schule, um sich bei den Hausaufgaben betreuen zu lassen. Ihre Mutter räumte auf, ehe sie in die Zahnarztpraxis fuhr, in der sie arbeitete. Es war eine seltene Konstellation, wusste Enissa. Die meisten Mitschüler ihrer Brüder, die auch am Nachmittag in ihrem Gymnasium waren, gingen in die Mensa. Die Kollegen und Kolleginnen verbrachten die Mittagszeit oft zusammen in dem Sozialraum oder einem Café. Aber Mama wollte es so. Die Kinder sollten zuhause essen. Das war ihr Kompromiss zwischen der deutschen und der türkischen Lebensweise, einen Spagat, den sie alle meistern mussten. Die Familienbande hatten eine stärkere Bedeutung als bei ihren Mitschülern aus anderen Ländern, fand sie. Schon ihre Eltern waren in Deutschland aufgewachsen und gaben sich Mühe, eine gute Balance der Kulturen zu finden. Es machte Enissa stolz, ihren Beitrag dazu zu leisten und von der Familie gebraucht zu werden. Sie war nützlich, denn sie erkannte, wenn es etwas zu erledigen gab. „Işi gör“ – sieh die Arbeit. Manchmal wünschte sie sich mehr Freiraum, doch ihr Pflichtgefühl war stärker.
Auch zu Beginn des Nachmittags blieb es auf beinahe langweilige Weise ruhig. Als die junge, rotblonde Frau in den bunten Haremshosen und Flipflops in die Bank kam, stand Enissa auf und ging ihr lächelnd entgegen.
Benita:
Sie war froh, der Hitze des Tages in der abgedunkelten, klimaanlagengekühlten Bankfiliale zu entkommen. Eigentlich wollte sie sich nur Bargeld am Automaten holen. Sie tat das mit steigendem schlechten Gewissen. Um die Sperrzeit zu überbrücken, die sie beim Arbeitsamt wegen einer unbegründeten Eigenkündigung erhalten hatte, griff sie auf ihre Reserven zurück. Zwar war noch etwas vom Erbe ihrer Eltern übrig, da sie als erstes das Einfamilienhaus verkauft und eine Dreizimmerwohnung erworben hatte, aber das Geld war für Notfälle gedacht. Nun ja, genaugenommen war das einer.
Noch konnte sie kein Ende ihrer Lage absehen. Für einen begrenzten Zeitraum würde sie Arbeitslosengeld bekommen. Die Vorstellungsgespräche, die sie bisher ergattert hatte, waren entmutigend gewesen. Alles war gut gelaufen, bis sie zu dem Punkt kamen, weshalb sie ihr früheres Arbeitsverhältnis beendet hatte. Sie konnte keine glaubwürdige Antwort darauf geben und das machte die Personalverantwortlichen misstrauisch. Benita verstand sie. Sofern sie ein gutes Gespür für Menschen hatten, mussten sie erkennen, dass sie etwas verbarg. Meistens erkannte sie selbst, ab welchem Moment die Atmosphäre kippte. Aber wie sollte sie erklären, was damals passiert war? Es war unmöglich. Deshalb sah sie besorgt in die Zukunft und auf ihre schwindenden Reserven. Mit jeder Abhebung fragte sie sich, ob sie sich weiterhin Wein zum Abendessen kaufen durfte, sie wieder einmal mit ihrer Freundin ins Kino konnte oder sie ihr Auto abmelden sollte. Um Sprit zu sparen verzichtete sie ohnehin auf unnötige Fahrten und blieb in der Nähe, wo das Fahrrad ausreichte. Sie sehnte sich danach, sich mal spontan ein T-Shirt zu leisten, das ihr gefiel.
Am Kontoauszugsdrucker neben dem Geldautomaten bemerkte sie einen Mann in dreiviertel langen Jeans und Kapuzenshirt. Trotz der Hitze hatte er die Kapuze über den Kopf gezogen. Er stand breitbeinig und vornübergebeugt an dem Gerät, so dass sein Po in den Raum hinausragte. Benita hätte sich an ihm vorbeischlängeln können, wollte aber nicht. Stattdessen ließ sie ihre Augen auf den knackigen Rundungen ruhen. Nicht schlecht.
Sie sah die junge Frau an, vielmehr das Mädchen, das ihr lächelnd entgegenkam. Plötzlich fiel ihr brennend heiß ein, wie sie ihre finanzielle Misere lösen könnte. Sie war in einer Bank, hier gab es Geld. Cash. Es war versichert, kein Mensch würde geschädigt. Sie musste nur diese Bankmitarbeiterin dazu bewegen, es ihr zu geben.
Benita kniff die Augen mehrmals zusammen und riss sie wieder auf. Was ging in ihr vor? Wie sollte sie einen Banküberfall durchführen? „Hände hoch, Moneten her, sonst kitzle ich Sie zu Tode,“? Im Übrigen fiel ihr Blick auf das Schild an der Glaswand, die den Publikumsraum von den Schreibtischen trennte: „Wir sind eine bargeldlose Bankfiliale“. Bargeld gab es nur im Automaten. Vermutlich bedeutete das, dass die Angestellten keinen Zugang dazu hatten. Wie dumm waren ihre Gedanken?
Robin:
Er atmete schwer ein und aus, ehe er sich das Halstuch über Mund und Nase zog und die Kapuze tiefer schob. Den Rest seines Gesichts bedeckte eine Sonnenbrille. Sein Magen grummelte hörbar. Hauptsache, es blieb alles in ihm. Vielleicht hätte er auf Sarah hören sollen. Sie versuchte schon eine Weile, ihn davon zu überzeugen, Salat statt Bockwurst zu essen. Aber er war doch ein Mann, kein Schaf! Und bei dem, was er hier vorhatte, brauchte er eine gute Grundlage. Noch einmal kniff er die Augen zusammen, dann nahm er die verborgene Waffe aus dem Latz der Jeanshose. Er räusperte sich und versuchte, die Stimme um eine Oktave zu senken, als er hinter den Automaten hervor stürmte. Schließlich wollte er stark und gefährlich klingen. Er packte die Rotblonde in den bunten Hosen am Geldautomaten, zog sie vor die Bankmitarbeiterin und hielt ihr die Pistole an die Schläfe. „Geld her, sonst gibt es ein Unglück!“
Die Frau an seiner Seite sah ängstlich aus. Die junge Dunkelhaarige mit der Brille hinter dem Tresen wirkte zu Tode erschrocken und leicht verwirrt.
„Ich würde Ihnen gerne weiterhelfen, aber ich habe hier nur etwas Hartgeld.“ Sie ging an einen Stehtisch mit einem Computer. „Finger weg!“, brüllte Robin. Wer weiß, ob sie sonst noch einen Alarmknopf drückte und so die Polizei herbeirief. Er richtete die Waffe auf sie, während sie schnell tippte. Sollte er sie mit Gewalt aufhalten? Ihr das Ding auf den Kopf hauen? Er hatte keine Ahnung, wie das ging.
„Sehen Sie.“ Sie deutete auf den Bildschirm. „Das ist der Bargeldbestand. 179 Euro und 70 Cent in Münzen von einem Cent bis zu zwei Euro. Hilft Ihnen das weiter?“
Robin erstarrte. Machte sie Witze? Da entdeckte er die Schrift auf der Glaswand. Natürlich. Nicht einmal zum Bankräuber taugte er. Keine Chance, Sarah mit Mut und Entschlossenheit zu beeindrucken, vor allem aber mit Geld. Typisch Tollpatsch Klein-Robbie. Was nun? Die Gedanken rasten durch seinen Kopf.
„Einpacken!“, brüllte er, fuchtelte mit der Pistole herum und hielt dem Mädchen eine Tasche hin. Sie griff danach.
„Du und die da, ihr kommt mit!“ Die Worte klangen schrill in seinen Ohren.
„Wie bitte?“, fragte die Angestellte. „Was?“, kam es von der Rotblonden.
„Mitkommen!“, rief er nochmals. Hoffentlich würde er keinen Schuss abgeben müssen, um sich Respekt zu verschaffen.
„Einen kleinen Moment bitte“, sagte das Mädchen und begann, etwas auf einen Zettel zu schreiben.
„Bist du irre?“, fragte Robin verblüfft. „Machst du dein Testament?“
Beide Frauen starrten ihn verängstigt an.
„Bitte, bitte, kommen Sie!“, flehte der Rotschopf mit gepresster Stimme. Schnell kritzelte die Angestellte fertig, ließ die Finger über die Tastatur fliegen und trat zu ihnen. Er biss sich auf die Lippen. Schon wieder machte sie etwas, das er nicht verstand. Er konnte sie nicht schlagen, das war doch ein Mädchen! Viel zu langsam, vor allem zu unentschlossen, ging er vor. Verdammt, er hätte sie davon abhalten müssen, am Computer zu tippen! Jetzt war es zu spät.