Die Ordnung der Welt

Für S.

Es war einmal ein stattlicher Prinz, der war auf der Suche nach einer Prinzessin, um sie zu ehelichen und eines Tags das Land mit ihr zu regieren. Im Reich, das hinter dem großen See an seines grenzte, suchte das Königspaar nach einem Freier für seine schöne Tochter. So begab sich der Prinz an den Hof, um ihr mit vielen anderen Fürsten und Edelleuten seine Aufwartung zu machen.

 

„Bitch!“, knurrte Prinz Frederick. Sein Schimmel schnaubte unwillig und schüttelte das Haupt. Das treue Ross und der ergebene Diener, der an seiner Seite ritt, spürten sein Ungemach, seit sie überstürzt aus dem Schloss geeilt waren.

„Mein Prinz, wollt Ihr mir berichten, was Euch so aufgebracht hat?“, begehrte sein Diener Morin.

„Wann hörst du endlich mit diesem mein-Prinz-Mist auf, Mo?“, grollte Frederick. „Wir sind Freunde seit Kindheit an. Ich bin noch immer Rick.“

„Ich werde damit aufhören, wenn Ihr kein Prinz mehr seid, oder ich nicht mehr der Sohn des Kochs. Nun, mein Prinz, was löst diese unwürdige Sprache bei Euch aus?“

„Dieses verwöhnte Gör denkt, sie kann sich alles erlauben. Sie hatte eine Menge edler Herren vor sich, die um ihre Gunst buhlten. Ihr Land ist ertragreich, ein jeder von ihnen wollte ihr Gefallen erregen. Diese Hexe im rosa Kleid jedoch hatte nichts als Spott übrig. Der eine hatte eine zu lange Nase, der andere zu große Ohren, ein Dritter krumme Beine.“

„Was sagte sie über Euch, mein Prinz?“

Fredericks Augen spien Flammen.

„Ich sei so dünn, dass mich der Wind vom Balkon tragen würde, sollte ich mich neben ihr dem Volke zeigen.“

Morin seufzte. „Zu schade, dass all die Zuckerspeisen, die wir meinem Vater als Kinder stahlen, nicht zu mehr Fleisch an Euch führten.“

„Schade? Glaubst du, ich will wie mein Vater aussehen? Nein, dieses hochwohlgeborene Ungeheuer hat kein Benehmen. Ich bin froh, dass sie sich nicht herabließ, mich kennenzulernen. Ich müsste sie womöglich zur Frau nehmen und wäre an einen Menschen gebunden, der innerlich schwarz wie die Nacht ist.“ Es auszusprechen beruhigte den Prinzen. „Das bedeutet aber nicht, dass es mir gefallen hat, mich so behandeln zu lassen.“

„Sicher nicht. Das müssen der König und die Königin verstehen.“

„Ob sie es verstehen oder nicht, ist mir gleichgültig und ändert nichts an dem, wie es ist“, sprach Frederick endlich ruhiger. Die Ohren seines Schimmels beendeten ihr unruhiges Spiel und richteten sich aufmerksam nach vorne.

„Ich bin sicher, Ihr werdet eines Tages eine wundervolle Frau finden“, verbreitete Morin Zuversicht.

„Ich bin nicht sicher, mein Freund. Eigentlich bin ich froh darüber, wenn die Dinge bleiben, wie sie sind. Es ist alles gut, nur solltest du mich endlich wieder Rick nennen, dann wäre ich sehr zufrieden mit unserem Leben. Leider sehen meine Eltern das vollkommen anders.“

„Das müssen sie, denn Ihr seid für den Erhalt Eurer Dynastie verantwortlich.“

Frederick Gesicht zeigte Unbill. „Als hätten meine Schwestern nicht genug dafür getan. Sieben Nachkommen haben sie meinen Eltern bereits geschenkt.“

„Dennoch, Ihr seid ihr einziger Sohn. Es ist eure Pflicht.“ Morins Stimme war voller Mitgefühl. „Diese Prinzessin heute hatte weder königlichen Klarblick noch königliche Worte. Sie wird ihre Strafe eines Tages erhalten.“

 

„Sie hat keinen der Edlen erwählt!“, rief Frederick zornig aus. Wie er befürchtet hatte, waren seine Eltern voller Missfallen. „Es lag nicht an mir.“

Sein Vater betrachtete ihn mit Sorgenfalten auf der Stirne, seine Mutter mit Trauer im Blick.

„Wir müssen uns etwas einfallen lassen …“, murmelte der König.

„Im Königreich Faronia haben sie alle Jungfrauen des Landes zu einem Ball eingeladen, um ihren zaudernden Sohn eine ausreichende Auswahl zu bieten. Am Ende nahm er eine Hausangestellte zur Frau. Die Methode scheint mir wenig empfehlenswert“, antwortete seine Frau.

„Mir schwebt eine traditionelle Lösung vor.“

 

„Du wirst dich beweisen, mein Sohn!“

In des Königs Augen war ein Strahlen, das Frederick erzittern ließ.

„Wobei, edler Vater?“

„In Margisien wurde eine Prinzessin von einem Drachen geraubt. Die Ordnung der Welt schreibt vor, dass sie von einem Prinzen gerettet wird, den sie zum Manne nehmen wird. Ich habe die Botschaft des Königs von Margisien beantwortet und ihm mitgeteilt, dass du dieser Prinz sein wirst.“

Frederick fühlte eine nervöse Hitze von seinem Bauch in sein Gesicht aufsteigen.

„Kennt der Drache die Ordnung der Welt, oder ist er der Meinung, sie sieht Königskinder als zart geröstetes Mittagessen vor?“

Die Stimme des Königs erbebte vor Zorn. „Junge, auf diese Aufgabe haben dich deine Lehrer lange vorbereitet. Du wirst uns eine standesgemäße Schwiegertochter nach Hause bringen.“

 

„Ihr werdet die Aufgabe meistern, mein Prinz. Ich glaube an Euch.“

Der gute Morin, immer voller Vertrauen. Er begleitete Frederick. Der Prinz hätte es ihm nicht übel genommen, wenn er in Sicherheit zuhause geblieben wäre, doch er war dankbar dafür, ihn bei sich zu haben. Frederick selbst wünschte, er könnte den festen Glauben seines Dieners teilen.

„Mein Freund, ich habe Zweifel, dass sich ein Untier von meinem Schwert und meiner Lanze beeindrucken lässt.“

„So ist die Ordnung der Welt. Prinzen töten Drachen und befreien Jungfrauen.“

„Ich glaube, das mit der Ordnung der Welt funktioniert nicht immer.“

Morin warf ihm einen langen Blick zu.

„Welcher Ausweg bleibt Euch? Alles hinter Euch lassen, kein Prinz mehr sein?“

„Führe mich nicht in Versuchung.“

Morin senkte den Blick und lenkte sein Ross hinter Fredericks.

 

Nach zwei Tagen erreichten sie Margisien. Sie schlugen den Weg in Richtung des Gebirges ein, das Heimat des Drachen sein sollte. Nach einem weiteren Tag bemerkten sie die abgebrannten Bäume und Büsche. Fredericks Magen und Herz sanken.

Am Morgen des vierten Tages hörten sie es: süßer Gesang, wie er nur von einer Prinzessin ertönen konnte. Sie sattelten hastig ihre Pferde und folgten der Melodie.

Zwischen schroffen Gipfeln öffnete sich die Landschaft zu einer Wiese. Malerisch breitete sich darauf der rosarote Rock einer Gestalt mit langen, blonden Locken aus, die Blumen pflückte.

„Sie scheint mir nicht sehr zu leiden“, stellte Frederick zweifelnd fest und beobachtete die Szene weiter.

Ein tiefes Grollen ertönte, Flügelschlagen über ihren Köpfen. Der Drache! Er flog direkt auf die Prinzessin zu. Frederick nahm all seinen Mut zusammen und ritt dem Monster hinterher. Nahe der Dame ging es zu Boden. Noch hatte es ihn nicht wahrgenommen. Frederick umklammerte seine Lanze und nützte den Überraschungsmoment. Mit Schwung trieb er seine Lanze in den Rücken des Untiers. Es schrie verzweifelt und schlug mit kräftigen Flügeln.

Ein anderer Schrei ertönte.

„Mein Süßes!“

Die Prinzessin eilte zum Drachen und streichelte seine Nüstern, dann seine Augenlider.

„Bist du schwer verwundet?“

Das Tier wimmerte und rieb sein Maul am Bauch des Mädchens.

Wütend fuhr die Prinzessin zu Frederick herum.

„Was ist in dich gefahren? Was hat er dir getan? Gemeiner Meuchelmörder!“

Die Ordnung der Welt funktionierte definitiv nicht. Danach sollte das Tier tot sein, die Prinzessin von unendlicher Dankbarkeit erfüllt und bereit, Frederick einen Kuss als Belohnung zu schenken.

„Prinzessin Rosabella?“, fragte er erschüttert.

Sie verzog missbilligend den Mund. Ihre Hände formten einem Trichter, sie wandte ihm den Rücken zu und schrie auf wenig prinzessinenhafter Weise: „Ro! Da ist jemand für dich!“

Frederick betrachtete den Drachen misstrauisch. Das verwundete Tier schien jedoch nicht auf Rache an seinem Angreifer aus zu sein. Es leckte seine Wunde an der Schulter, wimmerte und presste sich an die Dame, die es beruhigend streichelte. Morin ritt neben ihn, stieg ab und nahm Fredericks Ross am Zügel. Der Prinz entstieg dem Sattel.

Im Unterholz, das die Wiese säumte, raschelte es. Ein stämmiger junger Mann trat hervor. Frederick sah noch einmal hin und korrigierte seinen Gedanken. Kein Mann, eine Frau. Ihre kräftigen Beine steckten in ledernen Hosen, ihr Wams war aus demselben Material, ihre schmutzig-braunen Haare unordentlich im Nacken abgesäbelt. Die Frau erfasste die Situation, beschleunigte ihren Schritt und stürzten zur Prinzessin und dem heulenden Untier.

„Was ist mit ihm?“ Besorgnis erklang aus ihrer Stimme.

„Der Kerl da stürzte von hinten auf ihn zu und stach ihn hinterrücks mit seiner Lanze. Dann fragte er nach dir. Scheint mir ein Prinz zu sein: Erst zuschlagen, dann fragen.“

Die grobschlächtige Frau drehte sich abrupt zu ihm.

„Haben meine Eltern Euch entsandt? Sie werden es nie begreifen!“

„Was geht hier vor sich? Wer seid Ihr?“, stammelte Frederick.

Die Frau rollte mit den Augen nach oben.

„Mein Name ist Rosabella von Margisien. Meine Eltern sind dummerweise das Königspaar des Reiches. Sie erzählen gerne die Geschichte, ich sein von einem Drachen entführt worden. Es passt ihnen sehr gut, dass der Beschützer meiner Freundin und mir zufällig dieser Gattung angehört.“

„Beschützer? Eure Freundin?“, stotterte er weiter.

Morin trat zu ihm und ergriff das Wort.

„Prinz Frederick von Lestuarien kam tatsächlich, um Prinzessin Rosabella, also Euch, wie wir nun wissen, zu erretten. Es war die Botschaft Eurer Eltern, die ihn alarmiert hatte. Er bedauert sehr, Euch Ungemach bereitet zu haben.“

Einen Moment lang wollte Frederick widersprechen, doch dann war er Morin dankbar für seine besonnenen Worte. Die Flammen, die aus den Augen der Frauen auf ihn gefeuert wurden, ließen nach.

„Edle Dame, wärt Ihr so gütig, uns zu erklären, wie die Lage in Wirklichkeit ist?“, fragte Morin in ergebensten Tonfall, als Frederick weiter stumm blieb.

Das Mädchen im rosaroten Kleid ergriff das Wort.

„Mein Name ist Violisa von Faronia, die jüngere Schwester des Thronfolgers. Tatsächlich wurde ich von einem Drachen geraubt, doch alle waren zu sehr mit der komplizierten Brautwerbung meines Bruders beschäftigt, um mir einem Retter zu schicken. Doch das Untier, das mich raubte, wollte mich als Spielgefährten für einen Freund, diesen lieblichen kleinen Kerl hier. Mit dem großen Ungeheuer ist nicht zu spaßen, wie auch Ro bemerkte, als sie auf einer ihrer Bergtouren auf mich stieß und beschloss, mich mangels Prinzen selbst zu erretten. Ihr Zopf wurde von feurigen Atem des Drachen entflammt, doch mein Freund hier beschützte auch sie. Ich schnitt ihr Haar mit ihrem Messer ab, wir lernten uns kennen … Wir beschlossen, nicht zurückzukehren in das Dasein als Prinzessin.

Und Ihr seid, werter Herr?“

„Morin, Diener des Prinzen“, erklärte er mit einer Verbeugung.

„Warum zieht ihr ein Leben in dieser Wildnis dem Schloss eurer Eltern vor?“, meldete sich Frederick endlich zu Wort.

„Freiheit“, erklärte Violisa.

Rosabella trat zu ihr und legte ihr einen Arm um die Taille.

„Zusammensein.“

„Wie … was …?“, stammelte Frederick.

Die Prinzessinnen sahen sich an. Violisa zuckte mit den Schultern und legte den Kopf in den Nacken.

Sie küssten sich. Lange und zärtlich.

„So“, erklärte Rosabella.

Die Ordnung der Welt schien ein Märchenbuch zu sein.

 

Die beiden Frauen nahmen die Männer mit in ihre Wohnhöhle und ließen sie Anteil haben an einem zarten Hasenbraten mit Wildkräuterfüllung. Währenddessen berichteten sie von ihrem Leben in Freiheit an der Seite des Menschen, der ihr Herz erfüllte. Rosabella fertigte mit kundigen Händen einen Umschlag für die Wunde ihres Drachen. Das Tier war bezaubernd, stellte Frederick fest. Arglos und vertrauensvoll bettete es seinen Kopf in seinen Schoß und ließ sich seinen schuppigen, weichen Kopf kraulen.

„Zieht keine falschen Schlüsse“, empfahl ihnen Violisa. „Der andere Drache ist eine Gefahr für euch.“

 

Nachdenklich ritten Prinz Frederick und sein Getreuer am nächsten Morgen davon. Was sollten sie den Eltern der Prinzessin erzählen?

„Entweder, ihr sagt ihnen, ihr hättet mich nicht gefunden, ihr hättet nur meine Überreste entdeckt, oder ihr sagt ihnen, dass ich mein Leben mit einer anderen Frau verbringen werde. Die letzte Möglichkeit dürfte am schlimmsten für sie sein“, hatte Rosabella gleichgültig vorgeschlagen.

Frederick gefiel Ersteres am besten.

 

Sie ritten eine enge Schlucht entlang, die sie aus dem Gebirge führen würde, als das ohrenbetäubende Brüllen erklang. Die Pferde tänzelten nervös. Frederick und Morin tauschten einen besorgten Blick aus.

Der Drache verdunkelte den Himmel. Er war größer als das Tier der Prinzessinnen, ein Auge war milchig weiß, der Kopf voller Narben. Frederick sah sich um . Die kahlen Felsmauern boten keinen Ausweg. Morins Blick war angstvoll.

Kein Ausweg, als noch einmal auf die Ordnung der Welt zu vertrauen. Der Prinz umklammerte seine Lanze, stieß seinem Ross die Fersen in die Flanken und brüllte sich selbst Mut zu. Der Drache öffnete sein Maul. Seine Augen verengten sich zu Schlitzen.

Feuer.

Dunkelheit.

 

„Mein Prinz, mein Prinz! Rick! Komm zu dir!“

Die Lider zu öffnen war schwer, doch es gelang ihm.

„Du nanntest mich Rick.“

Morin schluchzte.

„Ich dachte, ich hätte dich verloren …“

„Was das Ende eines guten beruflichen Weges bedeuten würde.“

„Scheiß auf den beruflichen Weg.“

„Solch unwürdige Worte, mein Freund?“

Morin atmete tief ein. Das Zittern der Hand, die Fredericks hielt, ließ nach.

„Was ist geschehen?“, begehrte der Prinz zu wissen.

„Du hast ein kluges Ross“, berichtete sein Diener. „Es wich dem Feuerstrahl der Bestie aus, doch dabei wurdest aus dem Sattel geworfen. Dein Kopf schlug auf den Boden. Du solltest darüber nachdenken, einen dieser Helme zu tragen, auch wenn sie wenig heldenhaft sind.“

„Was wurde aus dem Untier?“

„Nachdem deine Heldentat gestoppt war, hatte ich Gelegenheit einen Trick auszuprobieren, den Vio mir beim Abschied verraten hat.“ Er hielt eine Flasche in die Höhe.

„Der Wein ist verdorben“, stellte Frederick verwundert fest.

„Richtig. Violisa sagte mir, Drachen hassen Essig. Bei den ersten Tropfen aus der Flasche fauchte das Biest entsetzt und floh in die Lüfte.“

„Oh, so einfach …“

„Und so ungefährlich. Aber keine Heldentat. Wie geht es dir? Du warst nicht bei Besinnung. Siehst du klar? Musst du dich übergeben?“

Frederick horchte in sich hinein.

„Mein Kopf schmerzt, doch ansonsten scheint alles in Ordnung zu sein.“

Morin nahm sein Gesicht in die Hände und drehte den Kopf hin und her.

„Geht das?“

Frederick legte seine Hände auf die des Dieners.

„Ja. Mo, ich danke dir. Es gibt keinen besseren Freund als dich.“

„Der Diener ist niemals der Freund des Prinzen.“ Morins Stimme klang matt.

„Ist das die Ordnung der Welt?“, fragte Frederick. Morin nickte.

„Scheiß auf die Ordnung der Welt.“

Das Beispiel der Prinzessinnen hatte Frederick in der Nacht lange beschäftigt. Mit klopfenden Herzen legte nun er seine Hände auf Morins Wangen.

„Für die Rettung aus den Klauen des Drachen steht dir eine Belohnung zu.“

Frederick küsste seinen Freund. Morin erstarrte einen Moment, bevor den Kuss erwiderte.

 

Vor ein paar Tagen war ich mit den Kindern im Kino, in „Die Schöne und das Biest. Meine 11jährige:

„Das Biest wird erlöst, wenn sich eine Frau in es verliebt. Und wenn es ein Mann ist?“

„Das gibt es im Märchen nicht.“

„Sollte es aber heutzutage.“

Dann schreibe ich eben eines…