Adventsgeschichte 2020

19. Dezember 2018
»Fritzi, bist du das?«
»Ja. Wer ist denn da?«
»Hier spricht deine Cousine Kristin.«
»Oh!«, entfuhr es mir. Kristin? Meine Güte, wann hatte ich zuletzt von ihr gehört? Ich konnte mich nicht mehr erinnern. Was wollte sie?
»Linde ist gestern, am 18. Dezember, gestorben.«
Ich schüttelte den Kopf, um klare Gedanken zu bekommen. Jahrelang hatte ich nicht mehr an meine Tante in Norddeutschland gedacht. Oder Tanten. Auch Kristins Mutter Marlene lebte dort.
»Mein Beileid.« Himmel, fiel mir denn nicht mehr dazu ein? Doch es war eine Tatsache, dass ich keinen Bezug zu Mamas Schwestern hatte. Ich war ratlos, wie ich hier reagieren sollte.
»Die Beerdigung ist am Freitag, den 21. Dezember. Bitte fasst euch ein Herz und kommt. Ich weiß. dass sie sich das gewünscht hätte. In der Pension ‚Lisbett‘ habe ich zwei Einzelzimmer für euch reserviert vom 20. bis zum 22. Dezember. Passt das so?«
Damit war ich überfordert. Mama war so viele Jahre nicht mehr bei ihren Verwandten gewesen. Ich konnte mir nicht vorstellen, dass eine Beerdigung ihre Ansicht ändern würde. Andererseits, wer wusste, wie viel ihr die Schwestern heimlich doch bedeuteten? Vielleicht war sie mit ihren neunundsiebzig Jahren altersmilde geworden? Ich bezweifelte es, eher altersstarrsinnig, ging mir durch den Kopf. Auf der anderen Seite klang Kristin, als wäre es eine Selbstverständlichkeit, zu kommen. Das sollte es sein, oder? Also sagte ich spontan:
»Zwei Zimmer sind gut, die beiden Nächte auch. Wir brauchen ja einen ganzen Tag für die Fahrt.«
In Gedanken fragte ich mich, was meine Mutter dazu sagen würde. Aber es war Weihnachten! Selbst wenn sie sich zu einem anderen Zeitpunkt herausredete, zur Zeit würde es mir gehörig gegen den Strich gehen. Okay, wir waren sicher nicht die gläubigsten Menschen der Welt, der Weihnachtsgeist sollte uns trotzdem erfassen, oder? Mit Geistern konnte Mama sowieso mehr anfangen.

»Auf gar keinen Fall!«
So viel zu altersmilde. Auf Mama traf das wohl eher nicht zu. Im wildgemusterten, bunten Wallegewand, die grauen Haare, die wie ein Schleier über ihren Rücken fielen, den langen Ketten um den Hals und mit den schwarzumrandeten Augen sah sie aus, wie eine dieser Tarot-Kartenlegerinnen, die ihre Dienste im Internet anboten.
»Bitte denk noch einmal darüber nach. Eine deiner Schwestern ist gestorben, die andere lebt noch. Es ist höchste Zeit, euch endlich auszusöhnen!«
»Wieso? Nur, weil Linde tot ist? Ich habe die letzten neunzehn Jahre gut ohne sie verbracht, warum soll ich nun Trauer heucheln?«
Das lief nicht gut.
»Es gab eine Zeit, da hat sie dir etwas bedeutet!«, widersprach ich. »Immerhin hast du mich gewissermaßen nach ihr benannt!« Meine Tante hieß Friedlinde, dass ich Friederike getauft wurde, war kein Zufall. Tatsächlich war Linde meine Patentante gewesen. Dreizehn Jahre nach mir hatte Mama ihre zweite Tochter Lena genannt. Der Name von Kristins Mutter lautete Marlene.
»Wir sind zusammen aufgewachsen. Natürlich standen wir uns damals nahe. Linde ist neun Jahre älter als ich, sie hat uns quasi aufgezogen. Aber aus den Mädchen wurden Frauen, das sind andere Menschen. Als Frau hatte ich irgendwann nichts mehr mit Linde und Marla zu tun. Die beiden ja auch nicht miteinander, soviel ich weiß.«
»War«, sagte ich nur.
»Was?«
»Linde war neun Jahre älter als du. Nicht ‚ist‘.«
»Richtig.« Mama sah aus dem Fenster auf die hohen Bäume davor. Linden, fiel mir plötzlich auf. »Trotzdem. Das war in einer anderen Zeit. Jetzt hatten wir nichts mehr miteinander zu tun.«
»Seit wann genau war das eigentlich so?«
»Irgendwann in 1999, wenn ich mich richtig erinnere.«
Ich rechnete nach. »Das heißt, sechzig Jahre lang war alles okay zwischen euch?«
»Mag sein. Jetzt nicht mehr.«
»Ach Mama!« Ich seufzte. »Gib dir einen Schubs! Es ist kurz vor Weihnachten!«
Sie sah mich brüskiert an. »Was soll mir das sagen?«
Mist, mit diesem Appell kam ich nicht weiter. Da hatte ich eine andere Idee.
»Lindes Beerdigung ist am 21. Dezember, am Tag der Wintersonnenwende, liebe Sonngard.« Mama hatte wegen ihres Namens und ihrer esoterischen Veranlagung einen besonderen Bezug zur Sonne. »Das kann doch kein Zufall sein! Das Schicksal will, dass du da bist.«
Mama riss ihre Augen auf.
»Meinst du, die große Mutter will mir damit etwas sagen?«
»Auf jeden Fall!« Auf Mamas Hippie-Hirn war doch immer Verlass. »Ich fahre uns beide, ein Zimmer ist reserviert. Meine Tasche ist gepackt. Darf ich heute bei dir übernachten?«
»Alles schon vorbereitet, sehe ich.« Mama runzelte die Stirn. Sie mochte es nicht, wenn andere über sie bestimmten. Hier musste ich Fingerspitzengefühl zeigen.
»Ich habe als Erstes darüber nachgedacht, wie ich dich begleiten kann, deshalb wirkt das so. Um die Unterkunft hatte sich Kristin schon gekümmert. Ich würde mich freuen, meine Cousine und meine Tante mal wieder zu sehen. Komm doch mit, Mama.«
Ihre Gesichtszüge wurden weicher.
»Na gut. Dann begleite ich dich halt.«

20. Dezember 2018
Es war 8 Uhr morgens und ich fuhr mit meinem kleinen Renault Richtung Norden. Mama neben mir war sofort in einen tiefen Schlaf gefallen. Sie schnarchte. Ich beneidete sie. Um halb zwölf, wir waren gerade ungefähr bei Speyer, hielt ich zum Mittagessen an.
»Jetzt schon?«, kam es verschlafen vom Beifahrersitz.
»Ja, ich brauche mal eine Pause.«
In der Raststätte nahm ich Geschnetzeltes mit Rösti und einem Salat, Mama, die Vegetarierin, eine Spinatlasagne. Wie erwartet bekam ich einen Vortrag darüber, dass ich Tiere aß. Sie erklärte mir, was ich meinen Mitgeschöpfen antat, wie mein ökologischer Fußabdruck aussah und was für einen Schaden ich für meine Gesundheit und die Zukunftsaussichten nächster Generationen anrichtete. Ich versuchte, die Ohren auf Durchzug zu stellen.
Nachdem Mama am Vormittag so viel geschlafen hatte, blieb sie für die zweite Hälfte der Fahrt wach. Wir mussten uns unterhalten, und so bohrte ich wieder nach, was die Ursache für das Zerwürfnis der Otten-Schwestern gewesen war.
»Das ist lange her«, versuchte Mama, mir auszuweichen.
»Dann ist es vielleicht ein guter Zeitpunkt, euch zu versöhnen. Linde ist tot, ihr habt nur noch euch beide aus eurer Ursprungsfamilie!«
»Der Zeitpunkt für so etwas ist vorbei!«
»Warum, Mama?«, fragte ich drängend. »Was ist geschehen, das euch so verbittert hat?« Bitte, lass es nichts mit Lena zu tun haben, dachte ich verzweifelt.
»Die beiden waren schlecht für mein Karma«, fauchte Mama. »Deshalb will ich mich auch von Marla weiterhin fernhalten.«
Fassungslos schwieg ich. So etwas war für mich ein Totschlagargument. Wenn es um Mamas esoterische Neigung ging, hatte ich keine Chance. Meine Gedanken schweiften ab. Wenn Mama nicht bereit war, wieder mit Marlene zu sprechen, könnten vielleicht Kristin und ich einen Bezug zueinanderfinden. In Gedanken plante ich einen weiteren Ausflug zu ihr …
Mama sah mich an. Hatte sie etwas gesagt? Glücklicherweise klang ihr letzter Satz in meinen Ohren nach, so dass es nicht so sehr auffiel, dass ich mit den Gedanken ganz woanders war. Es war um Kristin gegangen.
»Sie erinnert mich an sie«, waren ihre Worte gewesen.
»An wen?«, musste ich trotzdem fragen.
»An Lena.«
Wir sprachen eigentlich nicht über meine jüngere Schwester. Noch immer fehlten mir die Worte. Mama schien es nicht anders zu gehen, sie sah aus dem Fenster. Wieder herrschte Schweigen im Auto. Es gab in dieser Familie zu viel, über das man nicht sprach.
Unser nächstes Thema war das Wetter. Schön unverbindlich.

Ich hatte gerade ausgepackt und geduscht, als das Telefon klingelte. Vorher hatte Mama gesagt, sie bräuchte kein Abendbrot mehr, nachdem wir im Auto belegte Brötchen gegessen hatten, und wir blieben beide gerne in unseren Zimmern. Sie wollte meditieren, ich fernsehen. Was war jetzt los? Ich nahm mich zusammen und meldete mich freundlich und neutral mit meinem Namen.
»Hallo, hier ist Kristin. Gut, dass ihr es geschafft habt.«
»Natürlich, ich hätte mich gemeldet, falls etwas dazwischen gekommen wäre.«
Schweigen. Was sollte ich jetzt tun? Was war der richtige Schritt, wenn die Cousine am Telefon war, zu der man seit neunzehn Jahren keinen Kontakt mehr hatte?
»Mutti will heute Abend niemanden mehr sehen, aber ich habe Zeit. Sollen wir uns treffen?«, schlug sie vor.
Genau. So einfach war das.
»Gerne. Wann und wo?«

»Mama, bist du da?«
Die Frage war berechtigt, denn im Keller gab es eine Sauna, das gefiel ihr. Doch meine Mutter öffnete die Tür. Es war 19 Uhr 30 und sie trug ein neues Wallegewand. Ein Nachthemd, wurde mir klar, obwohl der Unterschied nur geringfügig war.
»Du hast Glück, dass ich meine Meditation abgeschlossen und dich gehört habe«, begrüßte sie mich stirnrunzelnd. Ich ging nicht darauf ein.
»Kristin und ich treffen uns in dem Bistro gegenüber. Kommst du mit?«
»Nein, macht das ruhig ohne mich. Gute Nacht.«
Bevor ich den Mund öffnete, um zu widersprechen, drückte sie mir einen Kuss auf die Stirn und schloss die Tür. Bei dem Tempo, in dem meine neunundsiebzigjährige Mutter reagierte, konnte ich nicht mithalten. Sollte mir das mit fünfzig Lebensjahren Sorgen machen? Nicht jetzt, beschloss ich.
Im Bistro bestellte ich einen Glühwein. Er war gerade serviert worden, als sich die Tür öffnete und eine Frau eintrat, die Kristin sein konnte. Sie hatte einen weißblonden Kurzhaarschnitt, ein Tattoo, das man an ihrem Handgelenk erkannte und sich unter ihren Jackenärmeln fortsetzte, ihre Augen hatten die Farbe von den dunkelblauen Murmeln, mit denen ich als Kind gespielt hatte. Sie schenkte mir ein kleines Lächeln.
»Fritzi?«
Ich nickte und stand auf, hielt ihr die Hand entgegen. Kristin nahm sie, zog mich an sich und umarmte mich. Es war okay, bemerkte ich.
»Ich vermisse Tante Linde. Aber alles Schlimme hat auch eine gute Seite. Ich freue mich, dich wiederzusehen«, sagte sie, nachdem sie sich hingesetzt hatte.
»Das stimmt«, antwortete ich erleichtert. »Ich glaube, du warst siebzehn, als ich dich zuletzt gesehen habe. Ich konnte mir bei bestem Willen nicht vorstellen, dass unsere Mütter ein Jahr später den Kontakt abbrechen würden. Inzwischen bist du erwachsen geworden! Ich kannte nur das Mädchen, nicht die Frau.«
»Ja, das stimmt. Wir haben viel verpasst.«
Also begannen wir damit, uns erst einmal wieder kennenzulernen. Ich erzählte von meiner Familie, was wer beruflich machte, wir unterhielten uns eine Weile über das Auslandssemester meiner Tochter. Kristin berichtete, dass sie in einer festen Beziehung lebte, ohne näher darauf einzugehen. Ihr Beruf war ihr wichtiger und sie erzählte mit Enthusiasmus davon. Dann seufzte sie traurig.
»Sei mir nicht böse, aber wenn ich dich sehe, denke ich an Lena. Du bedeutest mir etwas, aber sie …«
Kristin folgte wohl nicht der Familientradition, Dinge besser totzuschweigen. Einerseits hatte ich einen Kloß im Hals, andererseits war es, als sei ein Gurt um meinen Brustkorb geöffnet worden. Ich atmete freier.
»Ich vermisse sie auch schrecklich. Aber ich verstehe, dass es nochmal anders ist bei einer gleichaltrigen Cousine.«
»Ja. Als Kinder standen wir uns sehr nahe.«
Mehr Worte waren nicht nötig. Ich nahm ihre Hand und drückte sie. Ich wartete eine Weile, doch sie ging nicht weiter darauf ein.
»Hattet ihr Kontakt zu Linde?«, interessierte mich.
»Mutti ist stur, sie also nicht. Aber ich kümmerte mich die letzten Jahre um meine Tante.«
»Toll, dass du das unabhängig von deiner Mutter hinbekommen hast.«
»Ich bin erwachsen und treffe meine eigenen Entscheidungen.«
»Weißt du eigentlich, was zwischen unseren Müttern vorgefallen ist?«, fragte ich. Kristin hob die Augenbrauen und verzog die Mundwinkel missbilligend.
»Nein, Mutti ist nicht die Beste, wenn es um Kommunikation geht. Linde wollte es mir auch nicht verraten. Du?«
»Nein. Die drei haben das wohl alle nicht gelernt.«
Wir sahen uns an und lachten. Meine Güte, warum hatten wir die ganzen Jahre keinen Kontakt zueinander gesucht?
Den Rest des Abends plauderten wir wie Freundinnen.

21. Dezember 2018
Ich begegnete Mama am Frühstücksbüffet. Zuerst sah ich sie von hinten, wie sie Müsli in eine Schüssel schüttete und freute mich, dass sie in ein Wallegewand und eine Strumpfhose in Schwarz gekleidet war. Was für einen Mantel hatte sie dabei? Grau, alles in Ordnung.
Ich holte ein Brötchen, Butter und Marmelade und schenkte mir eine Tasse Kaffee ein. Zurück an meinem Platz sah ich Mama zum ersten mal von vorne. Ihr Haarband hatte ein Papageienmuster in Rot, Orange, Gelb und Lila, die Halskette hatt die Farben eines Regenbogens. Ich schluckte. Sollte ich mich auf einen Konflikt mit ihr einlassen? Nicht am frühen Morgen schon.
»Heute ist der kürzeste Tag des Jahres. Die Dunkelheit wird Linde in ihre Arme nehmen.«
»Ja, so ist es«, bestätigte ich. Das fing gut an. Wenn sie die Seite ihrer Persönlichkeit zeigte, friedlich und nicht ganz von dieser Welt, konnte man sie auf eine Beerdigung mitnehmen. Die Farbtupfer auf der Trauerkleidung war ein kleineres Übel, damit kam ich klar.

Als wir in die Aussegnungshalle kamen, waren alle Reihen belegt. Mama blieb im Gang stehen und musterte die Menge der Gäste. Vorne stand Kristin auf und winkte uns zu sich. Neben ihr saß Marlene. Ich hielt die Luft an und sah zu meiner Mutter. Wie würde sie reagieren?
Sie blieb stehen und sah zu mir. »Komm schon, da sind unsere Plätze!«
Ich spürte, wie meine Wangen brannten. An mir lag es doch nicht, dass wir ein gespanntes Verhältnis zu unserer Familie hatten! Sie hängte sich bei mir ein, als würde sie eine Stütze brauchen, und dirigierte mich neben Kristin. Wir Cousinen saßen nun als Puffer zwischen den streitbaren Schwestern.
Trotzdem nahmen die beiden Blickkontakt auf. Ihre Mimik würde ich nicht als liebevoll beschreiben, sie erinnerten mich eher an Haie, die kurz vor dem Angriff waren. Hoffentlich war nichts dran an meinem Eindruck, sonst würden Kristin und ich in der Falle sitzen.
»Gut, dass ihr gekommen seid«, erklang Marlenes Stimme. Ich hatte sie lange nicht mehr gehört, aber hatte die schon früher so eisig geklungen?
»Ein letzter Gruß an Linde. Immerhin war sie meine große Schwester.« Mamas Tonfall war nicht wärmer. Kristin und ich sahen uns entsetzt an. Konnten sie denn nicht einmal in dieser Situation friedlich sein?
»Meine auch«, sagte Marlene zu meiner Überraschung milder. Ich sah sie an. Glänzten ihre Augen oder war das ihr Alter? Mama sah ebenfalls zu ihrer Schwester und betrachtete sie prüfend. Dann flatterten ihre Augenlider und sie blickte auf ihre Schuhe.
Während die anderen Gäste sich leise flüsternd unterhielten, schwiegen wir. Am Sarg entdeckte ich einen Kranz, auf dem geschrieben stand: »In liebevoller Erinnerung. Deine Schwestern Sonngard und Marlene mit Familien«. Ich hoffte, Mama würde nichts dazu sagen und war froh darüber, dass sie nicht mehr so gut sehen konnte. Sonst müsste ich damit rechnen, dass sie widersprach.
Eine Trauerrednerin trat nach vorne und erzählte aus Lindes Leben. Sie hinterließ keine eigene Familie, stattdessen fanden ihre Schwestern Erwähnung. Als die Person, die ihr am nächsten stand, wurde Kristin genannt. Unter gesenkten Lidern schielte ich zu meiner Cousine. Ihre Mundwinkel zuckten. Schließlich hielt sie ihre Hand vor den Mund. Ich drückte kurz auf ihren Oberschenkel, um ihr zu zeigen, dass ich bei ihr war.
Anschließend erfuhr ich endlich mehr von meiner Tante. All die Jahre hatte ich sie nicht vermisst, doch nun war ich traurig, ihr nie wieder begegnen zu können.
Als ich zu Mama blickte, sah sie mit unbewegter Miene nach vorne, doch über ihre Wangen rannen Tränen.
Ich bemerkte nicht, wie eine junge Frau nach vorne gegangen war und sah sie erst an, als ihre volle, dunkle Stimme den Raum erfüllte. Ich schloss die Augen und ließ mich von »Amazing Grace« tragen. Als sie davon sang, dass das sterbliche Leben endet und ein neues voller Freude und Frieden beginnt, konnte auch ich meine Tränen nicht zurückhalten. Der Sängerin gelang es, mich den Text fühlen zu lassen.
Später reichte Kristin uns Rosen, die wir auf den Sarg werfen sollten, als er auf dem Friedhof zu Grabe gelassen worden war. Es regnete. Die Gäste öffneten ihre Schirme. Wenige davon waren schwarz, und so stand am Ende eine Trauergemeinschaft unter einem Dach, das bunt wie ein Regenbogen war.

»Fahrt mir hinterher, damit ihr das Restaurant findet«, wies Kristin mich an.
»Wir müssen nicht unbedingt mitkommen«, antwortete Mama.
Meine Cousine sog ihren Atem scharf ein und sagte aufgebracht: »Jetzt ist aber gut! Natürlich kommt ihr mit! Tante Sonni, das ist unser Abschied von Linde!«
Die resolute Ansage brachte Mama sofort zum Schweigen. Vielleicht sollte ich mir eine Scheibe von Kristin abschneiden.
Im Restaurant setzten wir uns zu den beiden. Neben uns saß die Sängerin aus der Trauerfeier. Ich war verwundert. Gehörte sie zur Familie?
»Adina ist Kristins Mitbewohnerin«, erklärte uns Marlene und wandte sich an die kleine Frau mit den dunklen Knopfaugen. »Ich wusste gar nicht, dass du so gut singen kannst.«
»Als Kind war ich in einem Chor, aber ich singe nicht mehr regelmäßig. Ich kannte Linde und mochte sie sehr, deshalb habe ich das für sie gesungen.«
»Respekt«, sagte ich erstaunt. »Das war echt gut.«
Da die Beerdigung am späten Vormittag stattgefunden hatte, gab es ein warmes Mittagessen: Fisch in Senfsoße, dazu Bratkartoffeln.
»Das gab es bei uns zuhause oft«, erklärte mir Mama. »Es war ein typisches Resteessen.«
Marlene warf ihr einen scharfen Blick zu. »Aber es war eines von Lindes Lieblingsessen. Deshalb gibt es das heute.«
»Ich sag ja gar nichts!«
»Ich doch auch nicht.«
Kristin und ich warfen uns einen verzweifelten Blick zu. Vorsichtshalber übernahmen wir das Gespräch.
»Ihr wohnt also zusammen?«, fragte ich Kristin und Adina. »In einer Wohngemeinschaft?«
»Kann man so sagen, aber nur wir beiden«, entgegnete Kristin.
»Ganz ehrlich, du solltest das professionell machen, Adina. Dein Gesang hat mich echt berührt.«
»Lieber nicht. Das war mein Abschiedsgeschenk an Linde. Vielleicht war das nur, weil es jemand ist, um den ich wirklich trauere.«
Nun wollte ich mehr über ihr Verhältnis zu meiner Tante erfahren.
»Kanntet ihr euch über Kristin oder auch auf anderen Wegen?«
»Nein, nur über Kris. Aber ich mochte sie sofort, deshalb ging ich oft mit zu ihr.«
Adina erzählte, dass Linde sie ihrerseits von Anfang an ins Herz geschlossen hatte. »Meine Mutter ist türkisch und hat häufig mit mir gekocht. Das Tantchen war ganz begierig darauf, Neues zu lernen, und so haben wir über Schüsseln und Töpfen viel geredet.«
Ich fragte danach, was meine Tante am liebsten mochte. Schon bald waren Adina, Kristin und ich so tief in ein Gespräch über türkische Kochkunst verstrickt, dass wir nicht mehr auf die Mütter achteten. Als ich wieder zu ihnen sah, traute ich meinen Augen nicht. Die beiden Haie aus der Aussegnungshalle steckte die Köpfe zusammen und tuschelten und kicherten, als seien sie Teenager.
»… und wie Linde Mama dann erzählte, das sei eine Schulaufgabe …«. Sie klopften sich kreischend auf die Schenkel. Kristin griff nach den Espressotassen, die nach dem Essen vor ihnen standen, und schnupperte daran.
»Kein Alkohol«, stellte sie verblüfft fest. »Was ist denn mit euch geschehen?«
»Kindheits … verwinnerungen«, antwortete Mama. Gleich darauf platzte das Lachen aus ihr und Marlene wieder heraus.
»Das dumme Gesischt von Wenna Schubert, als Linde sagte, er sollte sich vom Agger machen …«
Vermutlich sahen wir diesem Jungen gerade sehr ähnlich, zumindest, was unsere Mimik betraf.
»Die Erinnerungen scheinen ja sehr lustig zu sein,« stellte ich vorsichtig fest.
Mama und Marlene sahen uns an und nickten eifrig und synchron, als würden sie gerade denselben Rocksong hören. Ihre Wangen glühten, die Augen glänzten. Aber nichts wies ansonsten darauf hin, dass sie betrunken sein könnten. Erst als ich den Flachmann aus Mamas Handtasche ragen sah, wurde mir einiges klar. Stirnrunzelnd zog ich ihn hervor, damit ihn außer Kristin und Adina niemand zu sehen bekam.
»Denkt ihr, das ist die richtige Art und Weise, eurer Schwester zu gedenken?«
»Absolut!«, antwortete Marlene. »Wer glaubsu, hat uns das beigebracht?«
»Linde war eine aufrichtige Bewunderin der Kunst des ’napsbrennens … äh …Schbabbs … ach, Korn, halt.«
Wieder kreischten die alten Damen vor Lachen. Kristin klopfte ihrer Mutter auf den Rücken.
»Na, wie oft hast du schon daran genippt?«
»Isdoch eggall, bleib ma logger, junge Frau.«
Wir sahen uns betroffen an. Bald würden die Trauergäste zur Verabschiedung an unseren Tisch kommen und die angeschickerten Rentnerinnen bemerken.
»Ich konfisziere den mal«, erklärte ich und steckte den Flachmann ein.
»Mutti, ich finde es gut, dass du dich wieder mit Tante Sonni anfreundest«, sagte Kristin leise und eindringlich. »Aber muss das mit Schnaps sein?«
»Linde wäre stolz auf uns!«, entgegnete meine Mutter und versuchte vergeblich, mich mit ihren Augen zu fokussieren.
»Daran hege ich Zweifel!«, hielt ich entrüstet dagegen. Kristin wiegte den Kopf skeptisch hin und her. Okay, besser nicht darüber diskutieren.
Tatsächlich kamen die Ersten, um sich zu verabschieden. Es waren ehemalige Nachbarn der Otten-Schwestern, ich schätzte sie auf Mitte 70 ein. Mit betretenen Gesichtern waren sie an den Tisch gekommen, wie es sich bei einer Beerdigung gehörte. Doch als sie Marlene die Hand schüttelten und sie die drei Herrschaften angrinste, lachten alle los.
»Ach, das erinnert mich an ein Schützenfest vor vielen Jahren!«
»Ich wette, Linde schaut euch von oben zu und hat Spaß!«
»Das ist wohl so«, brachte Mama fehlerfrei, aber schielend hervor.
Kristin überlegte fieberhaft, dann stand sie auf. Souverän bedankte sie sich bei allen Anwesenden und betonte, dass die Schwestern erschöpft seien und nach Hause müssten. Adina und ich taten unser Bestes, die beiden zu beschwichtigen, damit sie nicht lautstark protestierten. Trotzdem bemerkten wir, wie die Gäste lachend ihre Köpfe zusammensteckten.

»Warum soll ich schon wieda alleine insch Hotel? Heute ist doch die Winnersonn’wende! Da gehört man innie Natur!«, schimpfte Mama, als wir auf dem Parkplatz in unsere Autos steigen wollten.
»Ich glaube, du brauchst etwas Erholung. Das war heute ein anstrengender Tag, gestern die lange Reise …«
»Behandel misch net, als wäre ich sess Jahre alt.«
»Wohl eher, als wärt ihr sechzehn und hättet heimlich an Vatis Korn genascht«, mischte sich Kristin ein. »Schlaft euren Rausch aus, egal was die Sonne heute macht!«
»Aba du has gesacht, wir sollen uns aussprechen!«, protestierte Marlene. Ihre Tochter runzelte die Stirn.
»War das vorhin denn eine Aussprache?«
»Nein, aba wir sin fast so weit.«
»Ich glaube nicht, dass heute der richtige Tag dafür ist«, stellte ich fest. »Und morgen wollten wir eigentlich nach Hause fahren.«
Mama grunzte unwillig, auch Marlene gab einen protestierenden Laut von sich.
»Oh Mann!«, jammerte Kristin. »Beinahe zwanzig Jahre Funkstille, eure Schwester muss sterben, damit ihr euch wieder an einen Tisch setzt, und dann besauft ihr euch und wollt euch nicht mehr trennen? Über euer Problem habt ihr aber immer noch nicht geredet?«
»Ebent!«, kam es von Marlene an Adinas Arm.
»So macht man das bei uns!«, mischte sich Mama ins Gespräch.
»Bechern statt reden?«, fragte ich entsetzt.
»Jau. Aber wennu unbedingt willscht, reden wir auch noch.«
»Das wäre gut«, seufzte ich und sah zu Kristin. War eine Aussprache heute sinnvoll? Sie schüttelte den Kopf.
»Was habt ihr vor?«
»Nach Hause fahren, Weihnachten feiern.«
»Mit deinem Mann?«
»Kommt darauf an. Er wollte schon immer mal bei seinem Bruder feiern.«
»Dann bleibt doch hier«, forderte uns Kristin bestimmt auf. »Mutti, in Himmelpforten gibt es noch freie Zimmer, oder? Wir wollten sowieso zusammen dort feiern.«
Richtig, so hieß das Dorf, in dem Marlene lebte. Kristin sprach von ihrem Elternhaus. Ihr Vater war früh an einem Herzinfarkt gestorben, das hatte ich noch mitbekommen. Kristins älterer Bruder wohnte schon lange in Hongkong, wusste ich seit gestern. Ob die Streithähne zu einem friedlichen und harmonischen Familienfest bereit waren? Ich warf meiner Cousine einen zweifelnden Blick zu.
»Was?«, fragte sie mich. »Wieso wollt ihr denn vor Weihnachten noch längs durch die Republik fahren? Mutti, was denkst du?«
»Von mir aus können sie kommen«, murmelte Marlene unter gesenkten Lidern.
»Hier isses doch schön«, quengelte Mama.
Drei Tage bis Heiligabend, dachte ich. Morgen war Samstag, die Straßen würden voll sein. Kristins Vorschlag machte vieles leichter.
»Na gut«, seufzte ich. »Ich spreche mal mit meinem Mann, wie er darüber denkt.«

21. Dezember 2018
Am nächsten Tag fuhren wir tatsächlich nach Himmelpforten. Mein Mann bedauerte es beinahe beleidigend wenig, dass ich noch bleiben wollte. Dieses Jahr war perfekt, um die Feiertage anders als sonst zu gestalten, da unsere Tochter ohnehin im Ausland bleiben würde.
Auf dem Beifahrersitz trug Mama eine Sonnenbrille, die ich im Auto gelagert hatte. Ab und zu stöhnte sie. Es geschah ihr recht, wenn sie einen Kater hatte! Ich war immer noch fassungslos darüber, dass meine Mutter und ihre Schwester sich auf einer Trauerfeier betrunken hatten.
»Mütter sollten Vorbilder sein«, murmelte ich vor mich hin.
»Die Mutter bist du, also immer schön vorbildlich bleiben«, antwortete Mama zu meiner Überraschung. »Ich bin die Oma. Da bin ich lieber die verrückte Alte, als die langweilige, die nur abbaut und immer berechenbar ist.«
Ich bemühte mich, nicht laut loszuprusten. Seitdem ich mich erinnern konnte, war Mama das Gegenteil von berechenbar. Stattdessen sagte ich:
»Das trifft sich gut. Du sollst nämlich eine neue Seite an dir zeigen, am besten, du fängst mit eurem verkorksten Schwesternverhältnis an. Sagst du mir jetzt, worum es all die Jahre ging?«
Mama brummte nur ausweichend und rutschte tiefer in den Sitz. Ich nahm allen Mut zusammen und sprach an, was ich am meisten befürchtete.
»Geht es dabei irgendwie um Lena?«
Mama sagte lange nichts. Als sie sprach, klang ihre Stimme erstickt, obwohl es schon achtundzwanzig Jahre her war.
»Nein. Meine Schwestern haben mir damals sehr geholfen.«
»Das ist ja schön«, antwortete ich bitter. »Gut, dass du jemanden hattest.«
Im Gegensatz zu mir, dachte ich und biss die Zähne fest zusammen. Ich war damals zweiundzwanzig Jahre alt und musste damit klarkommen, dass meine kleine Schwester starb. Dass ich kein genetischer Zwilling für sie war, hatte mir das Herz gebrochen, sonst hätte ich ihr mit einer Knochenmarktransplantation helfen können. Das nationale Stammzellenregister war damals noch sehr klein. Heute würden ihre Überlebenschancen wesentlich höher liegen. Ich kämpfte alleine mit den Schuldgefühlen, dass ich überlebt hatte und ihren Tod miterleben musste. Mama und Papa litten selbst so sehr darunter, dass ich sie nicht mit mehr Kummer belasten wollte. Ich glaube, das war das erste Mal, dass mir aufgefallen war, dass in meiner Familie die Ansicht herrschte, über was wir nicht sprechen, kann uns nicht belasten. Wobei auch das eine vorgeschobene Wahrheit war. Als Papa und Mama sich drei Jahre später scheiden ließen, war es sicher auch, weil sie ein Kind verloren hatten. Damals war mein Mann bereits Teil meines Lebens gewesen, so dass ich nicht mehr alleine war.
Und nun erfuhr ich, dass Mama von ihren Schwestern getröstet worden war, während ich ganz alleine mit Lenas Verlust fertig werden musste. Ich konnte es nicht glauben.
Es fiel mir schwer in Worte zu fassen, was ich wirklich empfand. Aber da wir so geübt darin waren, Dinge zu vermitteln, ohne sie auszusprechen, verstand Mama meinen Satz bestimmt als Vorwurf. Sie drehte sich zum Fenster und sah hinaus, an ihren Mundwinkeln erkannte ich, dass sie aus dem Gleichgewicht war. Oder lag das an ihrem schweren Kopf vom Alkohol?
Den Rest der Fahrt verbrachten wir schweigend. Mama schlief irgendwann ein.

Nachdem wir unsere Zimmer in Marlenes Haus bezogen hatten, trafen wir uns im Esszimmer zur Teerunde. Zu meiner Überraschung war der Weihnachtsbaum bereits aufgebaut.
»In meinem Alter will man die Weihnachtszeit auskosten«, erklärte Marlene auf meinen überraschten Blick hin. »Wer weiß, wie lange das noch geht.«
»Ach, jetzt redest du Unsinn!«, fuhr Kristin sie an.
»Bei Linde hat auch keiner damit gerechnet, dass es so schnell geht. Wir haben nie darüber gesprochen, was sie sich noch vom Leben wünschte.«
»Mutti, sie ist, nein, war zwölf Jahre älter als du! Außerdem habt ihr soweiso nicht miteinander geredet.«
Ich räusperte mich. »Ob sie gewollt hätte, das ihr drei wieder zusammenfindet?«, kam ich zum Punkt.
»Linde kam schon immer gut alleine klar«, fuhr Mama mich an.
»Nein, das glaube ich nicht«, widersprach Kristin. »Sie war in den letzten Jahren sehr froh, wenn Adina und ich sie besuchten.«
»Ihr wohntet ja gleich bei ihr. Da kann man das ja auch erwarten«, befand Marlene.
»Glaubst du wirklich, es lag am Wohnort?«, zweifelte ich. »Wozu gibt es ein Telefon?«
Die Schwestern betrachteten interessiert, wie sich der Kandiszucker im Tee auflöste. Wie ähnlich sie sich doch waren, stellte ich fest.
»Warum wolltet ihr denn auf einmal nichts mehr miteinander zu tun haben?«
Mama presste die Lippen zusammen und Marlene tat so, als hätte sie Kristins Frage nicht gehört.
»Bitte«, flehte ich. »Warum wagt ihr keinen Neuanfang zu diesem Weihnachtsfest, oder zur Wintersonnenwende?«
»Weil man manche Dinge nicht verzeihen kann.« Mama war bockig.
»Höchstens vergessen«, fügte Marlene hinzu. Da schienen sie sich einig zu sein. »Über einen solchen Neuanfang können wir reden.«
Mama und sie nickten sich zu.
»Das wäre doch schon einmal ein Anfang«, seufzte meine Cousine.
»Die Sache auszuräumen, wäre aber besser«, drängte ich wieder.
»Einen schönen Christbaum habt ihr!«, warf Mama ein. Der Baum war mit roten Kugeln und Strohsternen geschmückt, aber das wollte sie sicher nicht damit aussagen.
»Mama! Nicht schon wieder!«, stöhnte ich.
»Was?«, fragten Kristin und Marlene unisono.
»Sie will einen Schnaps!«
Die beiden sahen mich verwirrt an. »Was hat das mit unserem Weihnachtsbaum zu tun?«
Ich war verblüfft.
»Kennt ihr das Christbaumloben nicht?«
Beide schüttelten den Kopf.
»Oh«, erwiderte ich. »Dann ist das wohl ein regionaler Brauch. Ein Lob auf den Baum führt zu einem Gläschen.«
»Na dann …«
Marlene stand auf und holte eine Flasche Rum aus der Kommode.
»Muss das schon wieder ausarten?«, schimpfte ich.
»Nein«, widersprach Kristin. »Jeder bekommt einen kleinen Schuss in den Tee, und dann ist es genug für heute.«
Sie stand auf und setzte ihren Vorschlag um. Als sie die Flasche wegräumte, widersprach niemand.
»Auf einen Neuanfang, Schwesterlein!«, prostete Mama Marlene zu. Die erhob ebenfalls ihre Tasse. Anschließend küssten sie sich auf ihre faltigen Wangen.
»Das war es?«, fragte ich fassungslos.
»Ja, warum nicht?«, entgegnete Marlene.
»Vielleicht, weil ihr den Eindruck vermittelt habt, es hätte jemand eine Todsünde begangen, und jetzt ist das alles einfach so wieder in Ordnung?«
»So ist das, wenn man die Dinge abhakt«, erklärte Mama.
»Aber was war denn damals so furchtbar?«, unterstützte mich Kristin. »Oder ist das heute, mit Abstand, nicht mehr so tragisch?«
»Es hat mich damals tief getroffen«, kam es von Marlene.
»Mich auch. Ich dachte, das ist der endgültige Schlussstrich«, ergänzte Mama.
»Ich hätte das nie von meinen Schwestern erwartet.«
»Ich auch nicht.«
»Es war so verletzend.«
»Genau.«
»Ja, was denn eigentlich, im Namen der großen Göttin?«, fragte ich verzweifelt.
Nun stierten die beiden wieder in ihre Tassen und rückten nicht heraus mit der Sprache.
»Manchmal ist schon alles gesagt«, entgegnete Mama nur.
»Wisst ihr es denn überhaupt noch?«, fragte Kristin verzweifelt. Ich schnaubte belustigt über diesen Gedanken.
Doch keine der Schwestern antwortete. Als ich Mama ansah, sah sie ertappt zur Seite. Das konnte nicht wahr sein. Oder doch?
»Im Ernst? Ihr wisst es nicht mehr?«
»Vergessen ist einfacher als verzeihen, sagen wir doch.«
»Jünger werden wir auch nicht, da macht das Gedächtnis nicht mehr richtig mit«, bestärkte Marlene sie.
Es fühlte sich an, als würde der Boden schwanken.
»Ihr habt uns beinahe zwanzig Jahre unsere nächsten Verwandten vorenthalten und wisst nun gar nicht mehr, warum?« Meine Stimme überschlug sich und wurde zu einem Piepsen.
»Ihr wart doch erwachsen, da hättet ihr ja in Kontakt bleiben können.« Marlene schob trotzig ihren Unterkiefer vor.
»Ich war ein Teenager«, stotterte Kristin.
»Du warst achtzehn, also erwachsen.«
»Wir wollten solidarisch mit euch sein!«, warf ich ein.
»Das war nett, aber jetzt ist es ein bisschen spät für Vorwürfe«, konterte Mama.
»Oh Mann. Kann in dieser Familie denn keiner vernünftig kommunizieren?«, stieß ich entsetzt hervor.
»Komm mal runter von deinem hohen Ross, Fräuleinchen!«, fauchte mich Marlene an. Ich erstarrte, denn damit hatte ich nicht gerechnet. »Du tust so, als hätte deine Generation die Weisheit gepachtet. Dabei bist du doch auch nicht besser!«
»Was willst du damit sagen?«, fragte ich aufgebracht.
Sie schluckte, ihre Hände zitterten. »Du hast es doch nicht einmal geschafft, über den Tod deiner Schwester zu sprechen! Ich weiß noch, wie traurig Sonni damals darüber war, dass du dich verschlossen hast.«
Ich erstarrte. »Ist das wahr?«, fragte ich Mama leise nach einer Pause.
Ihre Augen flitzen nach rechts, links und oben, als suchte sie nach einem Ausweg.
»Es wäre schön gewesen, wir hätten das als Familie verkraftet. Aber es war, als wäre Lena in der Versenkung verschwunden. Sie war einfach weg für alle.« Ihre Augen wurden feucht.
Auch mir rannen die Tränen übers Gesicht. »Ich hätte mir das auch gewünscht! Ich war so einsam!«
Wir sahen uns an, unsere Lippen zitterten. Ich zog Mama in meine Arme und schluchzte in das graue Haar, das ihr über die Schulter fiel. Wir waren beide emotional verkrüppelt, ging mir auf.
»Vielleicht war das gerade viel wichtiger als der Konflikt zwischen den Schwestern«, brach Kristin die Stille danach. Ihre Mutter war inzwischen jedoch richtig in Fahrt gekommen.
»Tu du nicht so, als wärst du unfehlbar!«
Überrascht riss meine Cousine ihre Augen auf. »Wie bitte? Woher kommt das denn jetzt?«
»Wie lange willst du mir denn noch vormachen, du würdest in Frauen-Wohngemeinschaften leben?« Marlene sah zornig aus. »Wie lange bist du mit Adina zusammen? Sechs Jahre? Die ganze Zeit warte ich darauf, dass du endlich mit dem Theater aufhörst.«
»Du weißt es?« Nun überschlug sich Kristins Stimme.
»Natürlich weiß ich es! Du bist mein Kind!« Marlene rollte mit ihren Augen. »Weißt du, wie gerne ich mich um dich gekümmert hätte, als diese blonde Exfreundin von dir dich fallen ließ? Aber du hast immer nur mit Linde geredet. Das tat mir auch weh!«
Was passierte hier? War das Thema nicht gerade noch das Zerwürfnis der Schwestern gewesen, an das sich niemand mehr richtig erinnern konnte?
»Sieht so aus, als müssten nicht nur wir Alten einen Neuanfang machen«, sagte Mama zufrieden. Als wäre es toll, dass auch Kristin und ich Schwächen hatten!
Wir waren beide fassungslos.
»Das müssen wohl alle erst mal verarbeiten. Ich laufe eine Runde«, schnaufte meine Cousine.
»Mach das«, übernahm Marlene die Gastgeberrolle. »Wir sehen uns um halb sieben zum Abendessen.«

Mama und ich gingen spazieren und redeten wie seit Jahren nicht mehr. Vielleicht auch wie noch nie zuvor, über Lena, Papa, meine Kindheit, ihr Singleleben. Als wir zurückkamen, waren unsere Augen rotgeweint. Wir hatten beide gedacht, wir müssten stark für die anderen sein, und dabei hatten wir übersehen, dass wir so keine Stützen füreinander waren.
Zum Abendessen gab es Kartoffelsalat, so wie Mama ihn gemacht hatte, als ich ein kleines Mädchen war, mit Mayo, Fleischwurst und Essiggurken. Seitdem hatte ich ihn nur noch mit Essig und Öl gegessen.
»Was sagt Adina?«, wollte Marlene wissen.
»Woher weißt du, dass ich sie angerufen habe?«, lautete Kristins Gegenfrage.
»Weil das normal ist.«
Ihre Wangen leuchteten pink auf.
»Äh ja, vermutlich ist da so. Sie hat mir gesagt, dass ich viel zu lange gewartet habe und dass sie so etwas schon vermutet hat.«
»Hat sie dir das denn vorher mal gesagt?«, wollte ich wissen.
»Sie hat es versucht«, gestand meine Cousine. »Aber ich habe immer abgelenkt.«
Ich musste lachen. »Scheint in unserer Familie stark verbreitet zu sein, nicht miteinander zu sprechen.«
»Scheint so. Wir sollten das wirklich ändern.«

Heiligabend
Adina war gestern angereist. Zwar feierte auch ihr deutscher Stiefvater Weihnachten, doch das erste Mal bei ihrer Freundin zu sein, zählte mehr. Kristin gab zu, dass ihre Befürchtungen alle nur in ihrer Fantasie bestanden hatten.
Ich blickte über die Gesichter der Frauen, die ein kleines, fröhliches Weihnachtsfest zusammen verbracht hatten: Marlene, Kristin, Adina, Mama und ich. Meine Tante verteilte selbstgebackene Kekse. Adina hatte uns allen einen Mokka gemacht. Wir hoben die Tassen.
»Auf einen Neuanfang!«, rief ich.
»Absolut«, fügte Kristin hinzu. »Auf dass uns nie wieder die richtigen Worte fehlen!«

Erscheint im Autorenadventskalender.