Weihnachtswache

Weich. Diese dämlichen Wolken schmiegten sich unglaublich weich an meinen Hintern. Stundenlang ließ es sich darauf ausharren. Heute war es notwendig, denn die heutige Schicht war die Schlimmste des Jahres.

Der Weihnachtstag. Und ich hatte Wache. Ich! Am Weihnachtstag! Wie konnte man diesen kritischen Tag einem Hilfsengel zweiter Klasse überlassen? Noch seltsamer: Wie kam es dazu, dass ich überhaupt hier war?

Vielleicht war das meine Strafe, himmlische Wache am Weihnachtstag. Wahrscheinlich hatten alle erstklassigen Engel frei, um zu feiern. Ich fragte mich, wie viele Kyries sie singen mussten, bevor sie eine geile Weihnachtsparty aufziehen konnten. Cocktails, heiße Körper, Völlerei …

Aber nicht hier. Zwei Wolken weiter saß tatsächlich ein Klischee-Engel: lange, goldene Locken und eine Harfe in der Hand. Eine Harfe!

Ich. Hier. Himmlische Wache. Harfenklänge. So hatte ich das nicht geplant.

Neben mir räusperte sich jemand. Eine weibliche, junge Stimme. Im Paradies wählte ein Jeder, in welchem Alter er die Ewigkeit verbrachte. Es war mir ein Rätsel, wieso manche sich für eine dauerhafte Erscheinung mit Falten um den Mund, Bauchspeck und Tränensäcken entschieden, doch es kam vor. Nicht zu selten. Einmal hatte ich einen Kerl danach gefragt. Er meinte, so habe er in der besten Zeit seines Lebens ausgesehen.

Als ich die räuspernde Gestalt betrachtete, stellte ich fest, dieser Engel hatte ähnlich gewählt wie ich, sie war jung. Ich vermutete, sie war etwa zwanzig Jahre alt, die Zeit, in der die meisten Frauen am schönsten sind. Ich als Mann hatte mich für meine Erscheinungsform mit fünfundzwanzig entschieden.

Sie hatte eine wilde, rote Lockenmähne. Vermutlich war sie in den 1970ern jung gewesen. Dass sie schon hier im Jenseits war, deutete darauf hin, dass sie ihr irdisches Dasein vorzeitig beenden musste. Wahrscheinlich war sie noch nicht lange hier. Eine Anfängerin. Ich verfügte selbst noch über keinen allzu umfangreichen Erfahrungsschatz im Engelsgeschäft, als Mentor war ich denkbar ungeeignet.

Vielleicht sollte ich zuerst einmal herausfinden, was sie von mir wollte. Unter Umständen musste sie nur wissen, was ich morgen zum Abendessen wählte. Ich könnte sie schockieren und gebratene weiße Täubchen nennen.

„Ja?“

Sie lächelte mich an. Nicht gut. Der klassische Test, ob ich kommunikationsbereit war.

„Willst du Gesellschaft? Unsere Bezirke liegen nahe beieinander, und dieses langweilige Geschäft ist schöner, wenn man jemanden hat, mit dem man sich unterhalten kann.“

Ich hob verblüfft, aber amüsiert die Augenbrauen.

„Du wagst es, unsere Aufgabe als langweiliges Geschäft zu bezeichnen?“

Möglicherweise war sie tatsächlich eine angenehme Gesellschaft an diesem öden Nachmittag.

Rotschopf lächelte erschrocken.

„Entschuldige, das habe ich nicht so gemeint. Natürlich ist es ganz, ganz wichtig, die Menschen in dieser Zeit zu beobachten und den Sondereinsatzkommandos Bescheid zu geben, wenn sie was Schlimmes machen.“

Schade, doch ein braves Engelchen, noch dazu scheinbar nicht von allzu hellem Geiste. Aber es war das erste Mal, dass ich in jemandem hier Potenzial sah. Wer weiß, bevor eine andere himmlische Patrouille sich bei mir niederließ und mich in dieser Dimension zu Tode langweilte, ohne dass ich die Chance bekam, gnadenvoll zu sterben, sollte sie bleiben.

„Setz dich.“

Sie strahlte, klimperte unbedarft mit ihren farblosen Wimpern und zog eine Wolke zu sich, als führte sie ein Schaf an der Leine.

„Ich bin Martha.“

Das war der Name meiner Tante. Ich grunzte. Das gierige Scheusal war sicher nicht hier gelandet. Rothaarig war sie auch nicht gewesen. Das wäre wirklich eine Variante der Hölle: die Ewigkeit an der Seite von Tante Martha erleben.

Sie sah mich prüfend an. Was wollte sie?

„Und du heißt …?“

Ach so. In Smalltalk war ich nie gut gewesen.

„Carl.“

„Du bist auch zweitklassig?“

Das klang unhöflich, doch der Blick aus ihren hellen Augen war arglos und naiv.

„Ja.“

„Ich weiß gar nicht, wieso ich nicht besser eingestuft wurde …“

Oh nein, solche Reden hatte ich schon zuhauf anhören müssen. Gleich kam der Monolog darüber, wie vorbildlich ihr Leben gewesen sei. Langweilig! Und in dem Bezirk, den ich beobachten sollte, geschah nichts von Bedeutung. Überall satte, rundgefressene Menschen mit wenig Energie für Untaten. Die Gutmenschen sammelten sich in Suppenküchen, um den Bedürftigen zu helfen, und die befanden sich heute allesamt in friedlicher Stimmung, zumindest in meinem Zuständigkeitsbereich. Weihnachtsstimmung.

Martha begann ihre Rede, doch anders, als ich vermutete.

„Na ja, vielleicht habe ich ein zu loses Mundwerk. Mutti sagte das schon immer. Das machte manche Leute unglücklich. Aber ich habe es doch nie böse gemeint …“

„Das gibt nicht immer Minuspunkte. Ich hatte auch damit gerechnet, das würde mir angekreidet werden. Stattdessen warfen sie es mir in die andere Waagschale. Ich hätte mit den Wahrheiten, die ich aussprach, die Menschen zum Nachdenken gebracht.“

Sie seufzte.

„Ich habe es wahrscheinlich zu häufig gemacht, um andere zu amüsieren und sie dazu zu bringen, mich zu mögen.“

Auf den Einwand zur Bewertung durch die JG-Richter ging sie nicht näher ein. Das kannte ich. Für Persönlichkeiten wie Martha war wichtig, was sie zu sagen hatten, nicht, was sie zu hören bekamen. ‚Output statt Input‘ würden es die Menschen heute nennen. Wieder dachte ich an die Verhandlung zum Ende meines Erdendaseins. Ich versuchte es noch einmal.

„Auch das wird dir verziehen, wenn du einen Ausgleich bietest.“

„Wie meinst du das? War das ein Thema bei dir?“

Sie hörte also doch zu.

„Nicht direkt bei mir. Aber ich habe jemanden beeinflusst, der sich ständig über andere lustig machte. Er war talentiert darin, Spitzen über seine Mitmenschen auszuschütten, die alle anderen zu Spott, Hohn und Gelächter brachten. Ich forderte ihn heraus, immer boshafter zu werden und war mir sicher, damit einem Plätzchen am Fegefeuer näher zu kommen. Aber was schlug mein Komplize für einen Weg ein? Er wurde professioneller Satiriker, dem es gelang, der Bevölkerung die Augen zu öffnen für die Missstände der Welt und der somit manches zum Besseren veränderte. Mehr noch, er stieg nach einigen Jahren aus der Entertainmentbranche aus und setzte seine Popularität für den Umweltschutz ein. Tief in seinem Herzen war es ein Gutmensch. Unwissend hatte ich ihn unterstützt.“

„Ist er auch hier?“

„Keine Ahnung. Ich habe nicht gefragt, seitdem ich angekommen bin. Aber wenn schon ich sein Dasein als positiv bewerte, wird es wohl so sein. Oder er ist noch auf Erden, falls er ein langes Leben hat.“

„So gut wie der war ich wohl nicht. Aber auch nicht schlecht, glaub‘ ich. Sonst dürfte ich ja nicht hier sein.“

Ich brummte und tat, als würden mich die Vorgänge auf dem Erdenrund interessieren, während sich Martha über die Frisur von Blondlöckchen ausließ. Unten senkte sich die Dunkelheit hernieder. Vielleicht brachte die Nacht weniger Langeweile. In meinem Bezirk war auch der folgende Tag ein Feiertag, so dass die Menschen die dunklen Stunden genießen konnten, ohne an den Morgen zu denken.

„Oh!“, entfuhr es Martha. Neugierig folgte ich ihrem Blick. Hmm, da hatte jemand Spaß.

„Muss ich das melden?“, fragte sie unsicher.

„Nein“, entgegnete ich düster. „Liebe unter Männern nehmen sie einem nicht übel. Zumindest meinen Richtern war egal, dass ich auch mit welchen im Bett war. Es sei niemals der anderen Seite zuzuschreiben, wenn Liebe das Ergebnis ist.“

„Du bist ein Hundertfünfundsiebziger?“

War sie doch schon länger tot? Welche Generation hatte denn dieses Wort statt „schwul“ verwendet?

„Ich war mit Männern und Frauen zusammen. Sag mal, wann hast du dein Erdenleben beendet?“

„Das war 2015. Warum?“

Sie war also nur wenig nach mir angekommen.

„Weil du den Homosexuellen-Paragrafen im Kopf hast.“

„Meine Eltern nannten das immer so. Ich habe nicht nachgedacht.“

Diese Art des losen Mundwerks meinte Marthas Mutti also: reden, ohne das Gehirn als Filter zu verwenden. Nach unserem Gespräch vermutete ich das bereits. Ich dagegen hatte immer alles bewusst gesagt.

„Erstaunlich, wie daneben wir liegen, wenn wir etwas gut oder schlecht nennen.“

Oha, zwischendurch hatte sie einen hellen Gedanken.

„Da hast du recht“, stöhnte ich. Sie wunderte sich bestimmt, dass ich hier war. Da war sie nicht alleine.

Ich hatte geglaubt zu wissen, wie die Verhandlung zu meinem jüngsten Gericht ausfallen würde. Wer rechnete denn schon mit progressiven Richtern? Die von Menschen ernannten Stellvertreter auf Erden waren allesamt konservativ gewesen, solange ich lebte.

„Warst du nicht auch der Meinung, eigentlich hätten sie dir von Anfang an einen höheren Rang geben müssen?“

Sie hatte es doch noch nicht kapiert. Nun könnte ich einfach sagen, was sie erwartete. Aber wieder machte sich mein lästiger Hang zur Wahrheit bemerkbar.

„Nicht ganz. Ich wollte ins Fegefeuer und tat alles dafür, was mir einfiel. Es war wohl noch immer nicht schlecht genug.“

Martha starrte mich fassungslos an.

„Warum das denn?“

Ich sollte aufstehen und gehen. Wollte ich denn dem Rotschopf eine Lebensbeichte ablegen? Aber es war Weihnachten, Zeit der Wahrheitsliebe.

„Ich befürchtete, jemanden hier zu treffen, den ich weder im Tod noch im Leben wiedersehen wollte. Im Laufe meiner Zeit auf Erden wurde mir zwar klar, dass er unmöglich hier sein konnte, aber da hatte ich dann andere Gründe, meine Ewigkeit nicht hier zu verbringen.“

„Wen wolltest du nicht treffen?“

„Meinen Großvater.“

„Was hat er getan?“

In meinem Kopf schien eine Alarmsirene zu heulen.

„Darüber rede ich nicht. Jedenfalls sagten alle Leute, die ihn kannten, er wäre ein guter Mensch. Deswegen ging ich davon aus, er sei hier. Zweifel bekam ich, als ich erwachsen wurde und alles besser verstehen konnte. Auf der anderen Seite gibt es Menschen, mit denen ich die Ewigkeit verbringen möchte, die keines dieser gottgefälligen Leben führten. Lieber mit ihnen im Fegefeuer, als ohne sie im Paradies.“

„Und trotzdem haben sie dich hier genommen.“

„Ja“, stellte ich frustriert fest. „Irgendetwas ging schief.“

Ich brütete vor mich hin in der Weise , in der ich die Zeit seit meinem Tode verbracht hatte.

Da stand Martha auf, reckte sich und ließ ihre Stimme voll und laut erschallen.

„Stimmlegitimation Martha Frommer, Code S-C-8- L-Y-6-5-3-eden, Ausnahmeverfahren beendet.“

Ich starrte sie mit offenem Mund an. Sie sah so anders aus. Selbstsicher, voller Energie.

„Was … was … du …“, stammelte ich. Sie legte mir eine Hand beruhigend auf die Schulter.

„Ich habe mir von ganz oben eine Notlüge genehmigen lassen auf der Grundlage ‚Zweck heiligt Mittel‘. Wir reden leichter mit Wesen, vor denen wir nichts zu befürchten haben, und ich wollte, dass du sprichst. Bitte verzeih mir. Sieh mich genau an. Erkennst du mich nun wieder?“

Es war, als fielen mir Schuppen von den Augen. Ich kannte sie. Von wegen Hilfsengel zweiter Klasse, schon gar nicht zwanzig Jahre alt. Sie war eine der Richterinnen meines jüngsten Gerichts gewesen. Brüskiert sah ich sie an.

„Wer bist du wirklich?“

Sie lächelte verlegen.

„Martha Frommer, das ist schon richtig.“

„Und sonst? Wie lange bist du wirklich hier?“

„Meine Lebensspanne erstreckte sich von den irdischen Jahren 1899 bis 1943.“

Ja, ihr Leben endete vorzeitig. Das Datum ließ Böses erahnen. Ich schwieg, bis sie die unausgesprochene Frage aufnahm.

„Ein schwieriges Jahr für die himmlischen Richter war das damals. Wir wurden im Schnellverfahren abgeurteilt. Trotzdem fiel ich auf. Die selbstlose Art meines Ablebens brachte mir einen Karriereboost.“

„Selbstlos?“

„Du willst nicht über deinen Großvater sprechen, ich nicht über die Umstände meines Todes. Aber hier erwiesen sie sich als nützlich. Ich bin eine der JG-Richterinnen mit den wenigsten Dienstjahren. Deshalb bin ich noch nicht ausgebrannt und mit überdurchschnittlich hoher Aufmerksamkeit bei der Sache.“

Ich war verblüfft. Hatte sie zuvor wie eine geistig simple Person gesprochen und mit den Lidern geklimpert, wirkte sie nun erhaben und von einschüchternder Schönheit. Noch immer fehlten mir die Worte. Sie ließ mir Zeit, ihre Wandlung zu verarbeiten, ehe sie weitersprach.

„Dein Fall blieb in meinem Kopf haften, und ich sah hin und wieder nach, wie du dich einlebtest. Nicht gut. Alle himmlischen Möglichkeiten, aber du bliebst ein trotziger Einzelgänger, bist allen Menschen ausgewichen, mit denen du deine Lebensspanne teiltest. Anpassungsschwierigkeiten, würde ich sagen… Immer die Frischlinge … Hier ist das Paradies, Carl, Glück ist für jedermann erhältlich, sogar für Alt-68er. Mit wem willst du die Ewigkeit wirklich verbringen? Zufällig Bodo Krämer? Das träfe sich gut, nach meinen Unterlagen wartet er ungeduldig darauf, sich mit dir zu vereinen.“

Beinahe geriet ich außer Fassung. Bodo sollte hier sein?

Mir fielen die ersten Worte ein, die mir in den Sinn kamen, als ich von Bodos frühem Tod hörte, Jahre, nachdem ich ihn verloren hatte. „Wenn es einen Gott gibt, dann hat er ihn zu sich genommen.“ Ich konnte diesen tröstlichen Gedanken nicht glauben. Nun schnürten mir Rührung und Aufregung zugleich die Kehle zu. Ich würde ihn wiedersehen! Dagegen verblasste die ungläubige Sensation, die ich gegenüber der Offenbarung von Marthas wahrer Natur empfand.

Freudentränen schossen in meine Augen. Ich räusperte mich. Sie sollte nicht sehen, wie es mir ging. Also versuchte ich, sie abzulenken.

„Ich dachte, im Himmel ginge es konservativ zu?“

„Seit ich mich erinnern kann, gibt es dieses Missverständnis,“ rief sie empört aus. „Tatsächlich passen die irdischen Schubladen wie ‚konservativ‘ oder ‚liberal‘ nicht auf die Zustände im himmlischen Jenseits. Es gibt einen Joker, der beinahe alle Verfehlungen heilt. Es ist die Liebe, selbstlos, langmütig und gütig. Sowohl bei dir als auch bei Bodo schlagen unsere Detektoren an. Damit seid ihr bereit für die gemeinsame Ewigkeit.“

Konnte das wahr sein? Dass sich mein Herzenswunsch erfüllte? Martha deutete auf Blondlocke mit der Harfe.

„Die Wache übernimmt deine Kollegin da drüben. Der gefällt es, andere zu kontrollieren, sie ist noch nicht so weit wie du. Komm mit, Carl, und lasse all irdisches Trübsal hinter dir.“


Ihr findet die Geschichte hinter dem dreizehnten Türchen.