Du steigst von den Sternen herab

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Mama und Papa erledigen den Abwasch, ich soll mich um Nonno kümmern. Es ist das erste Weihnachtsfest ohne Nonna. Sie ist Ende September gestorben. Blöder Krebs! Wir hatten Zeit, uns daran zu gewöhnen, dass sie nicht mehr da ist, aber heute ist es nochmal etwas anderes. Ein neues erstes Mal, mit dem wir leben müssen. Ich glaube, die Eltern sind absichtlich in die Küche gegangen und haben mich mit meinem sizilianischen Großvater alleine gelassen. Ich habe einen besonderen Draht zu ihm, weil er auf mich aufgepasst hat, als ich noch ein Baby war. Er war damals in Rente, seine deutsche Frau noch nicht, meine Mama ging wieder zur Arbeit. Und so gab es von Anfang an diese Beziehung zwischen uns beiden.
Wir sehen meiner kleinen Schwester zu, wie sie mit ihrem neuen Barbie-Haus spielt. Flora ist fünf Jahre alt, ein Nachzügler, zehn Jahre jünger als ich. Sie kennt Nonno nicht so gut wie ich, auch wenn er sie gerne umarmt und dieselben Spiele mit ihr spielt wie damals mit mir.
Ich sehe ihn an. Es tut mir weh, denn ich kann sehen, dass er traurig ist, auch wenn er so tut, als wäre nichts. Wie kann ich ihn ablenken? Ich lege meine Stirn in Falten und grüble.
Irgendwann kommt mir eine Idee. Er erzählt so gerne von früher.
»Nonno, wie war Weihnachten eigentlich, als du ein Kind warst in Sizilien?«
Er sieht mich an und zögert.
»Ganz anders als hier.«
»Na, das ist mir schon klar. Aber wie? Erzähl mal!«
Nonno greift sich in die weißen Haare. Ich kann mich erinnern, dass sie grau waren, als ich klein war. Inzwischen ist das anders, die Kopfhaut schimmert an manchen Stellen durch. Zu seiner braunen Haut ist das Weiß ein toller Kontrast. Er liebt die Sonne, war auch diesen Sommer wieder viel draußen und werkelte im Garten, so dass sein Gesicht aussieht, als wäre es aus Leder geformt.
Jetzt dreht er sich zu mir. Seine Mundwinkel sind nicht mehr so starr nach unten gezogen wie vorher. Die Erinnerungen lassen ihn lächeln.
»Bei uns gab es keine Weihnachtsbäume, wie du sie hier überall siehst, dafür aber Musik.«
»Die gibt es hier doch auch!«
»Oh, bimba mia, ihr habt das alles auf Maschinen.« So nennt er mich, mein Mädchen, weiß ich. Das sagt er nur zu mir. »Und die Kopfhörer, die euch mit der Musik alleine lassen. Bei uns war sie für alle da, und immer live!«
»Von wem?«
»Den Musikanten im Dorf. Man konnte sie buchen, damit sie bei einem spielen, und das haben viele mal getan. So gab es immer irgendwo Musik.«
»Was denn?«
»Na, unsere Weihnachtslieder! Wie Tu scendi dalle stelle
Das kenne ich, der Titel bedeutet Du steigst von den Sternen herab. Wir singen es immer zu Weihnachten für ihn, eine Strophe, das reicht. Ich verstehe fast nichts davon, weiß gerade noch, dass stelle Sterne heißt, bambino Kind und dio Gott. Ich glaube, viele Wörter singen wir falsch, vor allem, seit Flora mitmacht. Wahrscheinlich kann Papa noch mehr als ich, er ist Nonnos Sohn und spricht ein bisschen Italienisch.
Ich stelle mir die Musikanten vor wie die Kapelle bei der Prozession zu Ostern. Die habe ich schon mal gesehen und gehört. Zumindest mit viel Ernst sind alle dabei.
»Zuhause hattet ihr aber einen Baum, oder?«, frage ich Nonno, damit er weiterspricht.
Er lacht. »Nein, da erst recht nicht. Aber einen Stall, eine Krippe. Das war für uns Kinder immer das Größte, wenn das Baby Gesù darin lag. Auf Moos, das wir im Wald gesammelt hatten. Und dazu bekamen wir die Kekse, die die Frauen extra dafür gebacken hatten. Als du klein warst, hat meine Schwester uns welche geschickt, collorelle, mit bunten Zuckerperlen und getrockneten Feigen oder Mandeln.«
Ich erinnere mich. Die waren sehr süß und sahen aus wie kleine Rettungsringe, fand ich damals.
Nonnos Augen leuchten inzwischen. Er erzählt weiter:
»Aber eigentlich war für die famiglia das Essen am wichtigsten. Wir kamen alle zusammen, i nonni, Tanten, Onkel und ihre Kinder. Die Frauen haben zwei Monate lang Lebensmittel gesammelt, immer ein bisschen davon zur Seite gelegt, damit es ein richtiges Festessen wird. Dann haben die Männer Karten gespielt.«
»Seid ihr nicht in die Kirche gegangen?«
In Sizilien sind sie doch alle katholisch, das gehörte doch bestimmt auch dazu.
»Natürlich. Aber erst um eine Stunde vor Mitternacht. Und wenn Gesùs Geburtsstunde gekommen ist um zwölf Uhr, hat der padre die Krippe dort aufgemacht.«
Jetzt grinst Nonno, als hätte er ein Geheimnis.
»Was?«, frage ich.
»Ach nichts.«
»Das stimmt nicht, du denkst doch an etwas.«
Er grinst wieder. Seine Wangen sind rot geworden, aber er schaut mir tief in die Augen.
»Nur ein Spaß, wie Jungen das manchmal machen.«
Ich grinse zurück und sage ihm nicht, dass auch Mädchen Streiche spielen, das kann er sich nicht vorstellen. Es gehört zu unserer besonderen Verbindung, dass er mir so etwas erzählt, sonst niemandem, als wäre es ihm heute noch peinlich, dass er einmal ein Lausbub war, wie er es nennt.
»Sag schon«, dränge ich ihn.
Er senkt seinen Kopf zu mir und spricht ganz leise.
»Einmal habe ich von hinten gerufen: Ist es ein Junge oder ein Mädchen?«
Ich lache. Weil es lustig ist und weil es ihm heute noch unangenehm ist.
»Und wie haben alle reagiert?«
»Mein papà hat gelacht, mamma war sauer und der padré hat mir ein paar Tage später die Ohren langgezogen. Aber erzähl es nicht deinem Papa.«
»Keine Angst, das bleibt unser Geheimnis.«
Wir zwinkern uns verschwörerisch zu.
Als Mama und Papa zurückkommen, sage ich:
»Wie wäre es mit Tu scendi dalle stelle? Das haben wir heute noch gar nicht gesungen.«


erschienen im https://www.autoren-adventskalender.de/