Glücksreserve
- Mai 2014
„Mäuschen, hast du heute schon Zeitung gelesen?“
Mamas Anrufe begannen immer mit dieser kindlichen Ansprache, egal, wie alt ich inzwischen war.
„Nein, ich kenne nur die Artikel, die ich selbst geschrieben habe, aber die wirst du wohl kaum meinen.“
Meine Mutter ignorierte den spitzfindigen Kommentar.
„In den Familienanzeigen gibt dein Ex ein freudiges Ereignis bekannt.“
Ich erschrak und blätterte schnell die hinteren Seiten der Tageszeitung auf. Sofort entdeckte ich sie.
Wenn aus Liebe Leben wird, dann hat das Glück einen Namen:
Sophia. Am 22. Mai 2014 wurden Lukas, Julia und Holger Behrends beschenkt.
„Ich sehe, was du meinst.“
Mama gurrte ins Telefon, als wäre ich eine Katze, der man sich vorsichtig nähert. Es machte mich nur nervöser.
„Wusstest du es?“
„Nein“, antwortete ich ungehalten.
Nun erfuhr ich auf diesem Weg und durch Mamas Anruf, dass die neue Familie meines Exmanns gewachsen war.
„Wieso sollte er es auch seiner Exfrau erzählen?“, fragte ich, doch an meiner nasalen Stimme erkannte Mama, wie betroffen ich war.
„Ist das erste Kind überhaupt schon zwei Jahre alt?“, fragte sie mich.
„Keine Ahnung.“
„Nach all dem, was ihr durchgemacht habt, wirft ihm diese Julia die Babys wie eine Karnickelmama.“
„Das geht mich nichts an.“
„Siehst du das tatsächlich so? Oh Mäuschen, du bist so tapfer. Du weißt, ich bin für dich da!“
„Ja, Mama, das weiß ich. Ich komme schon klar.“
„Ich weiß doch, wie sensibel du bist. Ruf mich an, falls ich etwas für dich tun kann.“
„Natürlich, das mache ich. Aber es ist alles in Ordnung.“
Wir verabschiedeten uns. Als das Gespräch beendet war, konnte ich mich endlich damit befassen, wie es mir wirklich ging.
Ich fühlte einen Stich in der Brust, nein, eher ein Schneiden. Der Schmerz wurde mit der Zeit nicht weniger. Oft hatten wir uns ausgemalt, wie ein kleines, schutzbedürftiges Wesen unsere Liebe vollkommen machte. Doch es war anders gekommen. Keine Liebe, keine Vollkommenheit. Stattdessen ein Inserat über meinen Ersatz in der Zeitung, für die ich arbeitete! Musste das sein? Ging es nicht rücksichtsvoller? Holger wusste, wie schwer es mich traf.
Doch die Zeiten, in denen er an meine Verfassung dachte, waren lange vorbei. Er war dazu auch nicht mehr verpflichtet, das hatte ich mir in der Therapie erarbeitet. Mit unserer Trennung hatten wir die Verantwortung füreinander aufgegeben. Ich durfte zornig oder traurig sein, aber ich konnte nicht von ihm verlangen, sich nicht über seine Familie zu freuen. Nur machte mir die Vorstellung, den Trauerprozess noch einmal durchzustehen, riesige Angst. Ich hatte wirklich darüberstehen wollen, als Lukas zur Welt gekommen war, und den Eltern die Freude von Herzen gönnen wollen. Es hatte drei Monate gedauert, bis klar war, dass mit meinem Herzen etwas anderes los war. Bis zu dem Zeitpunkt war ich mit der Scheidung gut zurechtgekommen. Holger und ich hatten keine Gemeinsamkeit mehr gehabt, nachdem unser Familientraum gescheitert war, und so vermisste ich den Mann nicht wirklich, als wir die Konsequenz gezogen hatten. Aber dass er so schnell bekam, was uns zusammen nicht vergönnt gewesen war, hatte etwas in mir zerbrechen lassen. Und gerade erst war ich wieder auf die Füße gekommen, da wuchs sein Elternglück an. Ich dagegen saß in der wenigen Zeit, die ich nicht in der Redaktion arbeitete, vor dem Fernseher oder plagte mich im Fitnessstudio.
Was tun, wenn die Welle der dunklen Gefühle über mich hereinbrach?
„Haben Sie Krafttankstellen? Gibt es Zeiten, in denen Sie so etwas wie Glücksreserven aufgebaut haben, die Sie stärken, wenn es notwendig ist?“, hatte meine Therapeutin dazu gesagt.
Jetzt mussten die größten her, an die ich mich erinnerte.
Ich schloss die Augen und dachte darüber nach, was die glücklichste Zeit in meinem Leben war. Die Hochzeitsreise mit Holger nach Südafrika? Nein, keine gemeinsamen Erinnerungen, ermahnte ich mich. Schlittenfahren zusammen mit Mama und Papa, als sie noch beieinander waren? Besser nicht an die Kindheit denken, da lag es zu nahe, mir selbst wieder Nachwuchs zu wünschen und SIE vor Augen zu haben.
Der Sommer 1989. Ja, das ging. Die beiden glücklichsten Wochen meiner Jugend, Aoife, Conor und ich, beste Freunde auf Zeit. Irland, das wundervolle Land, an das ich immer mit Sehnsucht zurückdachte. Conor war nie ein Mann der Worte gewesen, mit Aoife hatte ich 1989 ein paarmal telefoniert und sie ein Jahr später noch einmal besucht. Doch in dem Jahr hatte es in ihrem Leben eine drastische Wende gegeben. Als mir klar wurde, dass ich zu lange nichts mehr von ihr gehört hatte, hatte ich den Zeitpunkt verpasst, als unsere Freundschaft erstarrte. Ohne E-Mails und soziale Medien verlor man sich zu der Zeit schnell aus den Augen, eine aktuelle Adresse hatte ich nicht.
Doch nun kramte ich die schönen Erinnerungen hervor. Teenagerkichern, Umarmungen, die frische Luft, unendliche Grüntöne. Oder waren es nur vierzig gewesen? Ich hatte sie nicht gezählt. Musik, Aoife, die den Text von Carole Kings ‚You’ve got a Friend‘ aufschreibt, mit Blümchen verziert, unsere Namen und das Datum ‚16. August 1989‘ ergänzt und es mir schenkt. Hatte ich das Blatt nicht noch irgendwo?
Ich sprang auf. Unterm Bett lagerten Kindheitserinnerungen in einer Kiste. Jahrelang hatte ich sie nicht mehr angesehen. Nun zog ich sie hervor und ließ sie auf die blau-schwarz-gestreifte Bettdecke fallen. Ich nahm mir Zeit: In der Plastikdose klapperten meine Milchzähne. Das Babyalbum, das mit Bildern von Mama, Papa und mir aus der Kindergartenzeit endete. Der Schwimmausweis, bis zum silbernen Rettungsschwimmabzeichen hatte ich es gebracht. Das Poesiealbum aus der Grundschule lag Seite an Seite mit den Freunde-Büchern aus der Realschule. Irgendwann sollte ich sie mal wieder ansehen, doch nicht heute. Ein Notizbuch mit handgeschriebenen Gedichten, als ich vierzehn oder fünfzehn war. Tatsächlich, eingeschlagen in eine Schutzhülle aus Pappe war das gesuchte DIN A4-Blatt mit Aoifes lebendiger Schrift. Sie war stark nach rechts geneigt, als beeilten sich die Buchstaben, das Zeilenende zu erreichen. Der Unterbau von f und g ging oft über den Wortanfang oder das Ende hinaus und die hohen Linien der großen Anfangsbuchstaben überdachten den halben Begriff. Mit dem Finger folgte ich den Strichen aus Tinte. Ganz unten standen zwei Zeilen: ‚Ballycarrick, 15. August 1989, Katrin Winter, Aoife Fitzgerald, Conor Brady‘. Glücklich presste ich das Fundstück an meine Brust. In dem Dokument steckte eine Menge Teenager-Pathos, aber es diente mir als Beweis, dass die Zeit mich unsere Freundschaft nicht hatte verklären lassen.
Gut, allerdings nicht ausreichend. Einmal hatte ich versucht, die beiden zu finden, doch das war lange her. Inzwischen gab es aber bedeutend mehr Interneteinträge zu allen Personen. Vielleicht hatte ich nun Glück.
Ich begann mit ihrem Namen, denn Conor war für mich immer eher ihr als mein Freund. Glücklicherweise war ihr irischer Vorname im weltweiten Netz selten, so dass sich die Anzahl der Hits im Rahmen hielt. Ich blätterte sie durch. Zu einigen der Frauen gab es Fotos, sie war nicht dabei. Bei anderen konnte ich mir aus den Beiträgen erschließen, dass die Altersgruppe nicht passte. Bei drei Aoife Fitzgeralds war ich nicht sicher. Eine lebte in den USA, die zweite und dritte in Irland. Ob sie im Land geblieben war? Bestimmt.
Da hatte ich eine Idee: Ich gab den Namen ihres Vaters ein, Greg Fitzgerald. Zwar war sein eigentlicher Vorname Gregory, aber neben seiner Arbeit in der eigenen Arztpraxis war er Mitglied des irischen Parlaments gewesen. Als Abgeordneter trat er jovial unter der Abkürzung seines Vornamens auf. Bei ihm war die Wahrscheinlichkeit, dass er im Netz zu finden war, ungleich größer. Wie weit seine Karriere wohl vorwärtsgekommen war? Ich hatte die irische Politik wenig beobachtet. Zumindest war er weder Ministerpräsident noch Finanz- oder Außenminister geworden, denn die Namen wären mir als Journalistin begegnet, auch wenn ich für die Lokalredaktion arbeitete.
Ein paar Minuten später klopfte mein Herz lauter. Gregory Fitzgerald war Gesundheitsminister gewesen! Also war sein Ehrgeiz erfüllt worden, so hoffte ich zumindest. Ich las vier Artikel über ihn durch, bis ich aufjubelte und die Handflächen aufgeregt auf den Schreibtisch schlug. Da war von seiner Tochter, der ‚erfolgreichen Anwältin Aoife Kennedy‘ die Rede. Anwältin war sie geworden! Am Anfang war ich verwundert, denn ich hatte sie als fröhlich und manchmal etwas naiv in Erinnerung. Andererseits neigte sie schon immer zu weitschweifigen Ausführungen und ich hatte auch ihre kämpferische Seite erlebt. Aber wir hatten uns auseinandergelebt. Ich kannte das Mädchen, nicht die Frau. Das wollte ich ändern.
Der Rest war einfach. Ich fand sie auf einer Plattform für berufliche Vernetzung, auf der auch ich angemeldet war, und schrieb ihr eine Nachricht:
„Hallo, kennst Du mich noch? Ich glaube, wir waren als Teenager befreundet. Über eine Antwort würde ich mich sehr freuen. Liebe Grüße, Katrin Winter“.
Ein Profilbild war leider nicht hinzugefügt worden.
Da ich schon dabei war, gab ich mit kribbelnden Fingern Conors Namen in die Suchmaschine ein. Die Ergebnisse waren unüberschaubar, was musste er auch einen Allerweltsnamen tragen? Ich betrachtete die ersten Bilder, die auftauchten. Keines passte. Eines sah ich mir näher an. In meiner Erinnerung waren insbesondere seine dichten, blonden Haare präsent, wie das Fell eines Teddybären. Eines der Gesichter könnte zu einem um ein Vierteljahrhundert gealterten Conor gehören, sofern er die Haarpracht verloren oder sich abrasiert hatte. Ich forschte nach. Das Alter passte, aber der Rest nicht. Es handelte sich um einen Manager eines IT-Riesen, der zwar in Dublin arbeitete, jedoch erst im Jahr 2002 aus den USA dorthin gekommen war. Es kam mir auch unglaubwürdig vor, dass der stille, in sich gekehrte junge Mann, der sich darauf vorbereitete, die Autowerkstatt seines Vaters zu übernehmen, einen solchen beruflichen Weg gegangen war.
Nachts schlief ich überraschend gut. - Mai 2014
Ausgerechnet über das zehnjährige Jubiläum des Waldkindergartens sollte ich heute berichten. Ich erinnerte mich an seine Gründung, Holger und ich waren bei der Eröffnungsfeier dabei gewesen. Wir waren völlig in der Stimmung aufgegangen, dass unser Kind die Einrichtung eines Tages besuchen würde. Damals hatten wir noch fest daran geglaubt, dass ‚wir‘ mit Hilfe der Ärzte in wenigen Monaten schwanger sein würden. Vier Jahre danach hatte ich nach wie vor kein Baby erwartet, und Holger war schon in die junge, fruchtbare Julia verliebt. Heute hatten sie die Familie, von der wir träumten. Ob ihre Kinder wohl diese Einrichtung besuchen würden?
Ich versuchte, mich zu distanzieren, und schrieb den Artikel routiniert, aber freudlos und hastig herunter.
In der Kantine setzte sich Jörg zu mir, ein langjähriger Kollege der Kulturredaktion, zu dem ich ein freundschaftliches Verhältnis hatte. Schräg gegenüber saßen zwei Mitarbeiterinnen der Anzeigenannahme, über die wir beide gerne lästerten. Wir hielten uns nicht für etwas Besseres, unsere Zeitung bestand aus einem familiären Team. Ich freute mich, als ich damals nach dem Volontariat ein Angebot bekommen hatte, hier zu arbeiten, denn ich fühlte mich wohl. Im Immobilienbüro schräg gegenüber hatte ein sympathischer junger Makler namens Holger Behrends gearbeitet, mit dem ich gerne meine Pausen verbrachte. Damals.
Jörg und ich aßen schweigend unsere Paella mit Meeresfrüchten, ein Highlight auf dem Kantinenplan. Da die Kolleginnen wenig Übung darin hatten, leise zu sprechen, gelang es ihnen nur schlecht und wir verstanden einige Satzfetzen.
„Holger Behrends … Ex … jetzt Kinder … wenn Karriere wichtiger für sie ist …“
Ich fühlte, wie meine Wangen glühten und mir Tränen in die Augen stiegen. Dumme Gänse! Jörg warf mir einen mitleidigen Blick zu, tätschelte meine Hand und ging zum Nachbartisch. Laut und deutlich sagte er:
„Könnt ihr euch denn nicht vorstellen, dass es auch andere Gründe als die eigene Entscheidung dafür gibt, keine Kinder zu bekommen? Ihr solltet besser Mitgefühl haben, statt über eine Kollegin zu lästern.“
Er sah mich beifallheischend an. Meine Wangen brannten. Die Serviette ließ ich auf den halbvollen Teller fallen und lief hinaus.
Ich meldete mich krank und hastete nach Hause. Unter einer heißen Dusche lehnte ich die Stirn an die Kacheln und weinte, während mir das Wasser über Schultern, Rücken und Hintern floss, um lauwarm von den Waden in den Abfluss zu laufen. Ich weiß nicht, wie lange ich so verharrte. Um mich abzulenken und mein Gedankenkarussel zu stoppen, ging ich ins Wohnzimmer und spielte auf dem Handy. Mit dieser Methode gelang es mir in der Regel, vor der Wirklichkeit zu fliehen und Abstand zu gewinnen. Nach einer Tasse Kaffee setzte ich mich an den Computer. Ich hatte eine Antwort auf meine Nachricht an Aoife erhalten:
„Liebe Katrin, ich kann es nicht fassen! Natürlich erinnere ich mich an Dich! Das ist wie eine Stimme aus einer anderen Zeit. Es war so schön damals, als Du mich besucht hast. Dass wir uns aus den Augen verloren haben, tat mir oft leid. Ich habe Dich vor ein paar Jahren sogar erfolglos gesucht. Wie sehr ich mir wünsche, Dich in Wirklichkeit zu sehen und wie früher mit Dir zu reden. Lass uns wieder Freunde werden! In Liebe, Aoife“.
Ich starrte auf den Bildschirm. Wahrscheinlich hatte sie in der Zeit nach mir gesucht, als ich Holgers Nachnamen trug. Ich lächelte zum ersten Mal an diesem schrecklichen Tag und antwortete umgehend:
„Liebe Aoife, wie schön, von Dir zu hören! Ich freue mich riesig. Wenn wir wieder Freunde sein wollen, beginnen wir doch mit einer Vorstellung: Mein Name ist wieder Katrin Winter, vielleicht erinnerst Du Dich, dass wir gleich alt sind. Ich arbeite als Lokalredakteurin in einer Tageszeitung und bin geschieden. In den letzten Jahren habe ich viel von der Welt gesehen, aber Irland ist mein Sehnsuchtsort, seitdem ich damals bei Dir war. Leider hat es sich nie ergeben, dass ich noch einmal dort war. Und Du? Wie lebst Du heute? Alles Liebe, Deine Katrin“.
„Schön, Dich wieder kennenzulernen! Journalistin klingt nach einem guten Beruf für meine alte Freundin Katrin. Das Leben hat Dir kein Glück in der Liebe geschenkt? Das tut mir leid.
Mein Nachname Kennedy ist der meines Mannes Aiden. Wir sind seit fünf Jahren verheiratet und haben eine gemeinsame Tochter, Zoe. Sie ist drei und das Licht meines Lebens. Ich wohne inzwischen in Howth, einem Vorort von Dublin, wo ich als Anwältin in einer Organisation für Frauenrechte arbeite. Das waren nun nur die nüchternen, knappen Fakten, die bestimmt wenig über uns als Menschen aussagen, oder? Wir haben uns wahrscheinlich noch so viel zu erzählen“, lautete ihre prompte Antwort.
„Bist Du auch gerade online?“, schrieb ich sofort zurück. Für eine arbeitende Mutter war der Nachmittag vermutlich nicht der Zeitpunkt, an dem sie üblicherweise Zeit für einen Chat hatte. Umso mehr freute ich mich, dass sie sich den Freiraum nahm. „Wie geht es Deiner Familie?“
„Ja, ich arbeite von zuhause aus, Zoe ist im Kindergarten. Bei uns ist es doch eine Stunde früher als bei Euch, weißt Du noch? Mann und Tochter geht es gut, wir haben ein schönes Familienleben. Meine Geschwister und Eltern meinst Du doch nicht, oder? Zu denen habe ich nur wenig Kontakt. Eoin ist ohnehin schon lange in Australien. Deirdre heiratete den Arzt, der Vaters Praxis übernahm und blieb in Ballycarrick. Und Du? Mit wem teilst Du Dein Leben?“
Also hatten die Fitzgeralds nicht mehr zu einer Einheit als Familie gefunden. Das hatte ich befürchtet.
„Ich lebe seit meiner Trennung alleine. Meine Mutter sehe ich mindestens einmal wöchentlich. Seit drei Jahren ist sie in Rente und wohnt inzwischen mit einer gleichaltrigen Freundin zusammen.“
„Wann haben Dein Mann und Du Euch getrennt?“
„2008. Aber darüber will ich nicht reden, sei mir nicht böse.“ Und schon gar nicht daran denken. Stattdessen fielen mir all die Überstunden ein, die sich ansammelten, weil ich mich lieber in Arbeit vergrub als alleine zu sein, und dass die Verlagsleitung uns anbot, ein mehrmonatiges unbezahltes Sabbatical zu nehmen. Auf einmal hüpfte mein Herz übermütig vor Abenteuerlust. „Sag mal, wie ernst meintest Du es, als Du sagtest, du wünschst Dir, mich in Wirklichkeit zu sehen?“
Eine andere Welt
- August 1989
Aufgeregt schleppte ich den Koffer zur Absperrung. Was, wenn niemand da war? Oder wenn Aoife und ihre Familie schreckliche Menschen waren? Mein Rückflug ging in zwei Wochen, ich hatte Reiseschecks im Wert von vierhundert Deutscher Mark dabei. Irgendwie konnte ich es damit schon schaffen. Hoffentlich würde ich Aoife erkennen. Hoffentlich war sie gekommen!
Ich trat durch die Tür und alle Zweifel waren wie weggeblasen. Die Arme auf der Brüstung aufgestützt, sah mir ein Mädchen meines Alters erwartungsvoll entgegen. Anhand des verschwommenen Fotos im ersten Brief hätte ich sie echt nicht erkannt. Die dunklen Haare gaben schon einen Hinweis, aber das Lächeln, das auf ihren Zügen erschien, als sie mich sah, zeigte mir gleich, ich war richtig und willkommen. Glücklich gab ich es zurück. Das Abenteuer konnte beginnen!
Unglaublich, wie hübsch sie war. Die helle Haut in dem herzförmigen Gesicht war makellos, ihre Figur, ganz anders als meine dürre Statur, ein Traum. Sie trug Karottenjeans mit breitem Gürtel, wie sie gerade in waren. Darin steckte ein blau-weiß gestreiftes T-Shirt. Ihre zum schulterlangen Bob gestylten Haare lockten sich wilder als auf dem Foto, das war wohl eine Dauerwelle. Als wir uns gegenüberstanden, sah ich, dass ihre Augen grün waren. Wie passend, man nannte Irland doch auch die ‚Grüne Insel‘.
Eine herzliche Umarmung und ein strahlendes Gesicht empfingen mich.
„Katrin!“
Sie sprach meinen Namen englisch aus, wie ich es erwartete. Ich selbst hatte keine Ahnung, wie ich den ihren aussprechen sollte, und so hauchte ich unbeholfen, was ich in der Schule gelernt hatte:
„Hi! Schön, dich zu treffen!“
Sie lachte. „Iifa.“
Verwundert sah ich sie an. Ihre Hand berührte meinen Oberarm.
„Es heißt Iifa. Du fragst dich bestimmt, wie man den Namen ausspricht: wie Eva, langes I zu Beginn, dann ein f.“
„Danke! Ja, du hast recht, das wusste ich nicht.“ Ich war verblüfft, wie schnell sie mein Problem erkannte. Ein verlegenes Grinsen konnte ich nicht unterdrücken.
„Das geht jedem außerhalb von Irland so. Hier ist es ein ganz gewöhnlicher Name.“
Ein großer, schlanker, dunkelhaariger Mann Anfang zwanzig griff nach meinem Koffer, stellte ihn vor sich und gab mir die Hand.
„Ich bin Aoifes Bruder Eoin.“ Er grinste und betonte seinen Namen, der klang wie das englische ‚Owen‘, nur dass der letzte Vokal sich eher wie ein I anhörte.
„Unsere Eltern stehen auf irische Namen. Meine Schwester heißt Deirdre.“ Di-är-dra, lernte ich. Das erschien mir nicht ganz so abwegig. „Eoin hat gerade Ferien, er studiert in Dublin und war so nett, den Chauffeur zu spielen.“
Die beiden zogen Grimassen und ich wusste nicht, ob sie sich mochten oder nicht. Ich selbst hatte ja keine Geschwister. Musste der in den Semesterferien nicht arbeiten, fragte ich mich. Aoife hatte sich freundschaftlich bei mir eingehängt, ihr Bruder ging ein paar Schritte vor uns her über einen Zebrastreifen zum Parkplatz.
„Wie lange fahren wir bis Ballycarrick?“, erkundigte ich mich.
„Etwa anderthalb Stunden“, antwortete Eoin, hievte mein Gepäck in den Kofferraum der silbernen Limousine und öffnete die Fahrertür. Er sah mich fragend an. Ich war irritiert, bis mir klar wurde, dass das Steuer auf der rechten Seite war und er mir den Beifahrersitz anbot. Touristenfehler! Bevor ich los stotterte, sagte Aoife: „Wir sitzen zusammen hinten. Oder?“
Erleichtert nickte ich. Zum Glück verstand ich die beiden gut. Zuhause war mir ausgemalt worden, wie schrecklich die Aussprache der Iren wäre. Mit dem Schulenglisch kam ich gut klar. Da hatte sich das Büffeln ja gelohnt.
Von einem Besuch bei meiner Brieffreundin hatte ich jahrelang geträumt. Mit dreizehn hatte ich ihre Adresse von unserer Englischlehrerin bekommen. Das sollte das Interesse an der Sprache steigern, dabei war meines auch so schon groß. Wir begannen schnell, uns über sehr persönliche Dinge auszutauschen. Als ich vor einem Jahr in die Berufsausbildung startete, war klar, dass ich darauf sparte, es wirklich zu tun und nach Irland zu kommen. Aoife, zu der ich ein vertrauensvolles Verhältnis entwickelt hatte, war von der Idee begeistert. Was sie mir von Irland erzählt hatte, klang total spannend. Außerdem hoffte ich, dass die Landschaft ein bisschen wie Schottland in meinem Lieblingsfilm ‚Highlander‘ aussah. Die war ein Traum!
„Wie war dein Flug?“, erkundigte sich Aoife.
„Viel weniger kompliziert, als ich dachte. Der Blick aus dem Fenster ist super.“
Meine Freundin wusste, dass ich zum ersten Mal geflogen war. Als Tochter einer alleinerziehenden Mutter waren Flugreisen immer zu teuer für uns gewesen.
Aoife strahlte mich an. „Es ist so toll, dass du hier bist.“
Sie war so sympathisch, wie ich es mir vorgestellt hatte. Es war leicht, zur echten Person Vertrauen zu fassen.
Vor mir lag mit Sicherheit eine aufregende Zeit.
Wir fuhren noch eine Weile durch das grüne, flache Land. Das Licht war milder als zuhause, alle Farben wirkten irgendwie pastelliger. Viele Straßen und Felder waren von Mauern gesäumt, die aus übereinandergeschichteten, naturbelassenen großen Steinen oder kleinen Felsbrocken bestanden. Für mich sahen sie aus, als wären sie furchtbar instabil. Die regelmäßigen Lücken zwischen den unterschiedlichen Formen und die Abwesenheit eines Bindestoffes wie Mörtel waren wenig vertrauenserweckend. Doch offensichtlich funktionierte es, wenn es die bevorzugte Befestigungsweise der Iren war.
Ansonsten nutzte ich die Fahrt, um zu genießen, dass meine Freundin in Fleisch und Blut neben mir saß, und um mein Englisch auszuprobieren. Am Anfang stolperte ich ständig über meine Zunge, doch Aoife gab mir nicht das Gefühl, eine Fremde mit komischer Aussprache zu sein. Sie freute sich wohl so sehr auf meinen Besuch, wie ich es tat. Eoin dagegen sprach kaum mit uns. Er wirkte steif und förmlich auf mich.
Als er in eine Einfahrt fuhr, fielen mir beinahe die Augen aus dem Kopf. Ich hatte durch Aoifes Briefe sowieso schon den Eindruck gewonnen, dass ihre Familie nicht so arm war, wie ich es in Reiseführern über die meisten Iren las. Eoin stellte nicht einfach das Auto ab, sondern fuhr eine lange, gekieste Einfahrt hinauf zu einem großen, herrschaftlich wirkenden hellgrauen Haus. Kein Wunder, dass es einen Namen hatte. Das war also ‚Teach Poulnabrone‘, benannt nach einer Sehenswürdigkeit, wie ich erfahren hatte, einem Dolmen. Das waren Megalithgräber, hatte ich gelesen. Das Haus hatte ein Walmdach aus dunklem Schiefer, direkt darunter lockerte eine Reihe aus quadratischen, weißen Steinen die einfarbige Fassade auf. Gegenüber standen zwei kleinere Gebäude in denselben Farben, jedoch ohne den schmückenden Kontrast, möglicherweise ehemalige Ställe. Eines war mit einem Garagentor versehen, das Eoin öffnete, das andere sah aus, als wäre es ein Büro oder so etwas. Aoife und ich stiegen aus dem Wagen. Sie folgte meinem Blick.
„Vaters Praxis“, erklärte sie. „Du weißt doch, bevor er ins Dáil Éireann gewählt wurde, war er Arzt.“
„Wohin gewählt wurde?“, fragte ich verwirrt.
„Das Parlament.“
„Ach so, klar.“ Davon hatte sie mir erzählt. Das war gewesen, bevor wir uns kennenlernten.
„Er arbeitet da immer noch, wenn er nicht in Dublin ist. So hält er den Kontakt zu seinen Wählern und erfährt, was die Bevölkerung gerade denkt. In der restlichen Zeit kümmert sich ein Arzt, der aus Ballycarrick stammt, um die Patienten.“
„Aha.“ Mehr fiel mir dazu nicht ein. Ein Haus in einem Park, das aussah, als würde ein Butler die Tür öffnen, eine Arztpraxis und ein Politiker, das schüchterte mich ein. Alles war so ganz anders als meine Welt, und das nicht nur, weil ich in einem anderen Land lebte. Mama und ich wohnten in einer Dreizimmerwohnung in einem Wohnblock, wir hatten nicht annähernd so viel Platz.
Eoin hob meinen Koffer aus dem Auto, ich schnappte mir den Rucksack und folgte ihm zur Tür. Ob tatsächlich ein Butler öffnen würde? Du liebes Bisschen, war Aoife eine Art Prinzessin, und ich Wohnblock-Göre sollte gleich den ersten Knicks meines Lebens absolvieren? Irgendwie hatte sie mich mangelhaft auf dieses Erlebnis vorbereitet.
Doch meine Brieffreundin fand an der Situation nichts Ungewöhnliches. Als einzige mit freien Händen schloss sie die Tür auf und rief wenig prinzessinnenhaft in das Haus: „Wir sind da!“
Doch kleine Unterschiede fielen mir gleich darauf wieder auf: Hinter der Tür hing ein bronzefarbenes Weihwassergefäß. Zuhause stellte ich meine Schuhe im etwa drei Quadratmeter großen Foyer unserer Wohnung auf den Boden und hängte die Jacke über einen Berg von drei anderen auf einen der Haken. Die Fitzgerald-Geschwister dagegen öffneten einen mächtigen Schuhschrank und einen passenden Garderobenschrank und räumten ihre Sachen ordentlich ein. Ich machte es ihnen nach. Es war offensichtlich alles ganz normal für sie.
„Mum, wir sind da!“, rief Aoife und ging mit mir in ein Esszimmer. Ich versuchte, mir nicht anmerken zu lassen, wie beeindruckt ich von der langen Tafel mit weißer Tischdecke war, der mehrarmigen Lampe und den hochlehnigen Stühlen. Um die herum war viel Platz, als könnten darauf Dienstboten die Speisen servieren.
Zwei Frauen erschienen, eine jüngere und eine in etwa in Mamas Alter. Schwester und Mutter, war mir klar.
Deirdre sah Aoife zwar ähnlich, doch sie war weniger hübsch. Ihre Gesichtsform war eine andere, nicht herzförmig, sondern lang, mit ausgeprägtem Kinn. Die Haut war blass und machte nicht wie bei ihrer Schwester den Eindruck von Porzellan. Sie trug eine Brille und einen Pferdeschwanz.
Doch Mrs. Fitzgerald war diejenige, die auf mich zukam und mir ihre Hand hinstreckte. Sie kam mir etwa so alt wie Mama vor und war ganz hübsch, zumindest sehr gepflegt mit Make-up und dezentem Schmuck. Auf altmodische Art war sie elegant in ein Kostüm gekleidet. Mama trug so etwas nur ganz selten bei offiziellen Anlässen.
„Schön, dich kennenzulernen. Herzlich willkommen in Irland.“ Sie lächelte, jedoch nicht so herzlich und fröhlich wie Aoife. „Ich bin Bernice, das ist Deirdre.“
Nun begrüßte mich auch die junge Frau. Sie war neunzehn Jahre alt, rechnete ich aus.
„Gregory ist noch am Telefon. Am besten, ihr geht zuerst in euer Zimmer. Wir sehen uns dann zum Abendessen. Katrin, ich hoffe, du magst Fisch.“
Ich versuchte, mir nichts anmerken zu lassen, als ich zurückhaltend nickte. Ich fürchtete mich davor, von meinem Essen angesehen zu werden. Doch Bernice nahm das Zaudern wahr.
„Es gibt …“
Den englischen Begriff verstand ich nicht. Aoife wiederholte das Wort langsamer, doch ich wurde rot und lächelte entschuldigend. Es wunderte mich, dass ich bisher mit meinen Schulvokabeln gut zurechtgekommen war.
„Aber ich esse, was gekocht wird“, erklärte ich verlegen. Ich wollte ein guter, unkomplizierter Gast sein, doch das konnte schwierig werden. Es hieß, englische Küche sei schrecklich. Ob das auch für irische galt?
„Ein rosaroter Fisch, den normalerweise auch Leute mögen, die sonst keinen essen“, ergänzte Eoin.
„Ich werde es versuchen.“
Er nickte und trug den Koffer die Treppe hinauf. Allmählich wurde es mir unangenehm, dass ich mich von ihm bedienen ließ. In meiner Familie gab es keinen Mann, Mama und ich mussten alles alleine schaffen. Dann dauerte es eben etwas länger. Für ihn war es so wohl selbstverständlich. Vielleicht erwarteten seine Eltern das. Aoife und ich gingen ihm hinterher.
„Ich sehe euch später.“ Damit verabschiedete sich Eoin.
Meine Freundin lächelte scheu. „Ich hoffe, du bist einverstanden, dass wir in einem Zimmer schlafen.“
„Natürlich!“ Davon war ich ausgegangen. Zumindest, bis ich das Haus gesehen hatte. Hier gab es bestimmt mehr als ein Gästezimmer.
„Gut. Da wir nur drei Kinder sind, gibt es auch freie Zimmer, aber ich dachte, so wäre es netter. Da können wir im Bett noch miteinander reden.“
„Nur drei Kinder?“, wiederholte ich ungläubig. „Ich finde, das ist eine große Familie.“
„Hier gibt es viele, die mehr haben. Die durchschnittliche Kinderzahl liegt bei vier. Wie ist das in Deutschland?“
„Ich weiß nicht genau“, gab ich zu. „Ich glaube, so bei 1,4.“
Aoife nickte ernst. „Das hängt vielleicht mit den Scheidungen zusammen. Die haben wir hier ja nicht.“
„Mag sein.“
Sie wusste aus den Briefen, dass meine Eltern geschieden waren, mein Vater in München wohnte und ich es nicht leiden konnte, wenn ich ihn in den Ferien besuchen musste, weil ich dort keine Freunde hatte. Aber sie hatte es nie kommentiert. Mit nervös flatternden Lidern wartete ich ab, was sie noch dazu sagen würde. Aber sie verzog den Mund in einer unsicheren Mimik und sagte: „Dir kommt das wahrscheinlich alles sehr rückständig vor.“
„Ich dachte schon, du denkst, dass wir unmoralisch sind.“
Wir lachten beide.
„Nein, mir ist schon klar, dass es in den meisten Ländern anders ist. Aber hier hält man sich an das, was der Papst sagt. Und das läuft dann eben auf vier Kinder pro Familie hinaus.“
Ich zog einen Reiseführer aus meinem Rucksack.
„Ja, ich habe gelesen, dass das Land sehr katholisch ist.“
„So ist es. Du bist Protestantin?“
„Schon, aber das macht bei uns keinen großen Unterschied. Ich gehe sowieso kaum in die Kirche, seitdem ich konfirmiert wurde.“
„Wir gehen jede Woche, morgen zum Beispiel wieder. Du kannst natürlich hierbleiben.“
„Darf ich auch mit und mir das ansehen?“
„Sicher, wenn du möchtest.“
Ich nickte und sah mich im Zimmer um. Es war mit hellen Möbeln eingerichtet. Unter dem Fenster stand ein Schminktisch. Ich bemerkte ein Bild neben dem Spiegel: ein gütig lächelnder Jesus. In der Mitte des Raums war ein Doppelbett mit einer dicken, hellblau und gelb gestreiften Tagesdecke. Von einem Freund hatte mir Aoife nie erzählt. Ob sie vorsorglich ein großes Bett hatte? Das passte aber nicht zu der Aussage, sie würde sich an das halten, was der Papst sagte. Wir hatten eindeutig noch nicht über alle wichtigen Themen geschrieben.
Ich trat zum Fenster und sah hinaus. Zum ersten Mal konnte ich einen Blick nach hinten erhaschen. Eine Wiese war zu sehen und dahinter ein breiter, dunkler Fluss.
„Der River Shannon“, erklärte mir Aoife. Davon hatte sie mir geschrieben. Ihr Tonfall war bedeutungsschwer, fast ehrfürchtig. In Darmstadt gab es keinen bedeutenden Fluss, eher Seen und Teiche. Man konnte dort baden oder Boot fahren, aber auf diese Weise sprach niemand davon. Schon in den Briefen hatte ich das Gefühl, der Shannon wurde anders wahrgenommen. Das hatte zu meinem Eindruck von Irland gepasst, einem Land, wo es noch Mythen und Märchen gab. Ein Fluss, der so etwas wie außergewöhnliche Mächte hatte, rundete das Bild ab.
„Ist er besonders?“, fragte ich deshalb.
Aoife schwieg einen Moment, als sortiere sie ihre Gedanken.
„Er ist sehr groß, durchzieht den Großteil der Insel. Im Norden entspringt er im County Leitrim und mündet im Süden in Limerick in den Atlantik. Damit ist er ein wichtiger Wasserweg.“
„Aha.“ Ich sah sie auffordernd an. Mir gefiel es, wenn sie von ihrem Zuhause sprach. Es beruhigte mich, Gesprächsthemen mit ihr zu finden. Als ich schwieg, erzählte sie weiter.
„Wir sind hier in den Midlands, die Gegend rund um den Shannon. Genaugenommen beginnt hier der Westen, aber ich finde, das passt nicht so gut zu unserer Stadt. Der Fluss ist ein Bestandteil des Lebens hier, wir verbringen viel Zeit dort. Manche Leute haben Boote, Fischerboote oder Hausboote. Die kann man auch mieten, zum Beispiel übers Wochenende. Man kann viel unternehmen, angeln, spazieren gehen oder Ausflüge machen. Bedeutende Orte liegen daran. Die größte Stadt nach Limerick im Süden ist Athlone, da gehe ich zur Schule.“
Ich nickte, davon hatte sie in ihren Briefen geschrieben. In der Nähe von Limerick war ich gelandet, es war mir also auch ein Begriff.
Sie senkte geheimnisvoll ihre Stimme und riss ihre Augen auf. „Seinen Namen bekam er von einer Sagengestalt, Sionan, der Fluss ist also eine Frau. Kraftwerke versorgen uns mit Strom. Vielleicht haben wir deshalb das Gefühl, er sei mächtig.“
„Was ist ein County?“
Aoife erklärte mir, die Republik Irland sei in einunddreißig Countys untergliedert, sechs weitere bildeten den Teil im Norden, der zu Großbritannien gehörte und in dem der Bürgerkrieg herrschte. Ich erschloss mir, dass sie so etwas wie Landkreise waren. Im Reiseführer hatte ich darüber gelesen. Aber so ganz verstand ich es immer noch nicht.
„Und morgen schreiben wir einen Schultest darüber, okay?“
Entsetzt schüttelte ich den Kopf, sie lachte. Während ich meinen Koffer auspackte und die Sachen in einen Schrankteil legte, den sie mir freigeräumt hatte, kicherten und alberten wir, wie ich es mir gewünscht hatte.
„Wir waren die ganze Zeit in meinem Zimmer, hast du Lust, heute noch mit mir auszugehen?“, fragte Aoife auf dem Weg zum Abendessen. Die Erwachsenen sagten an Tagen der Anreise häufig, sie seien müde. Mich machten die neuen Eindrücke neugierig auf mehr, außerdem hatte ich mich heute kaum bewegt.
„Warum nicht?“
Das Essen wurde in dem Raum serviert, in dem ich Bernice und Deirdre begegnet war. Aber zuerst lernte ich noch Aoifes Vater kennen.
„Willkommen, Katrin!“, schallte es mir energiegeladen entgegen. Dr. Fitzgerald gab sich Mühe mit der Aussprache. Das A hörte sich so an, wie es sollte, das R war betont guttural, außerdem lag die Betonung auf der zweiten Silbe, so dass der Name klang, als wäre ich aus Frankreich. Elegant, das gefiel mir. Er nahm meine Hand in seine beiden und schüttelte sie.
„Ich bin Dr. Gregory Fitzgerald.“
„Sehr erfreut“, presste ich hervor. Ich war noch niemals einem Politiker begegnet und war nervös. Er war groß, breitschultrig und schlank, seine Haare und der Schnauzbart waren graumeliert. Die Kleidung sah nicht wie für einen bequemen Samstagabend aus: Er trug eine Krawatte, eine elegante Hose und schwarzpolierte Schuhe.
Auch er fragte nach der Anreise, den ersten Eindrücken und meinem Zuhause. Seine Stimme war dabei immer gleichbleibend, in jedem Satz wurde das zweite Wort etwas stärker betont. Inhaltlich war es einfach Smalltalk. Trotzdem wurden meine Hände feucht.
Aoife servierte mit ihrer Mutter und Schwester das Abendessen. Endlich wurde mir klar, von welchem Fisch sie vorhin gesprochen hatten: Auf meinem Teller lag neben Kartoffeln und Brokkoli eine Scheibe Lachsfilet. Ich war erleichtert. Den aß ich tatsächlich.
„Salmon“, stellte mir Aoife das Abendessen zur Sicherheit noch einmal vor.
Ich war froh: Die irische Küche war in Ordnung. Pizza mochte ich lieber, aber hiermit konnte ich gut der unkomplizierte Gast sein, wie ich es wollte.
Wir genossen es, uns für den Abend schick zu machen.
„Es ist keine richtige Disco, nur ein Nebenraum in einem Pub, in dem am Wochenende getanzt wird. Hier in Ballycarrick darf man da unter achtzehn hin, das ist nicht überall so, weil man auch Alkohol kaufen kann. Wahrscheinlich stellt sich die Polizei blind. Etwas Besseres gibt es in Ballycarrick auch nicht.“
Auf Aoifes Schminktisch befand sich Make-up wie bei einer Kosmetikerin. Zumindest glaubte ich das, ich war noch nie bei einer gewesen. Meine Freundin war richtig geübt und zauberte sich ein Gesicht, das mich an die Sängerinnen von Bananarama erinnerte, nur hübscher. Die Augen waren dick mit Kajal umrahmt, dazu leuchteten ihre Lippen in Violett. Unwillkürlich begann ich den Hit ‚Venus‘ zu summen. Aoife fiel mit ein, und kurz darauf tanzten wir singend durch ihr Zimmer.
„Jetzt bist du an der Reihe“, sagte sie und klopfte auf den Hocker vor dem Spiegel.
„Ich glaube, ich bin da kein gutes Material. Normalerweise nehme ich nur schwarzen Kajal und Wimperntusche, damit man die Augen überhaupt sieht.“ Meine roten Wimpern mochte ich gar nicht.
„Unsinn! Wir machen eine irische Schönheit aus dir. Du weißt, dass rote Haare als typisch irisch gelten? Aber deine braunen Augen sind ungewöhnlich, daraus lässt sich was zaubern. Hinsetzen und stillhalten!“, kommandierte sie.
Da ist sie wohl sehr optimistisch, ging mir durch den Kopf. Meine eigenen Bemühungen blieben weit weg von einer Schönheit. Aber vielleicht konnte sie ja zaubern, und ich war ein Teenagermädchen, das gerne bei so etwas mitmachte.
Aoife beugte sich vor den Spiegel und versperrte mir den Blick. Also schloss ich die Augen und genoss ihr Pinseln, Tupfen und Streichen. Am Ende bearbeitete sie meine kurzen Haare mit ihren Fingern. Ich roch Haargel.
„Bitteschön!“
In einer ausladenden Bewegung der Arme machte sie mich auf mein Spiegelbild aufmerksam.
Eine Schönheit sah mir nicht entgegen, aber ein klein wenig Magie schien Aoife zu beherrschen. Sie hatte keinen Kajal verwendet und recht natürlichen, beigefarbenen Lidschatten zu braunem Mascara. Das Make-up verlieh mir fast so etwas wie einen Rehblick. Meine Wangenknochen wurden mit Rouge, das zwischen rosarot und hellbraun lag, hervorgehoben, die Lippen trugen denselben Farbton. Die Haare waren der aktuellen Mode entsprechend stachelig gestylt.
„Nicht schlecht“, gab ich zu. „Woher kannst du das?“
„Verrate es niemandem, aber ich durfte mit Eoin üben. Der studiert Kunst. Deirdre ist dafür zu zickig, und mit Freundinnen wird es immer nur albern. Er nimmt mich ernst, wenn ich etwas lernen will.“ Zufrieden betrachtete sie mich. „Du siehst super aus! Soll ich dir ein paar Jungs vorstellen, deren Herzen du brechen kannst?“
Ich winkte lachend ab.
„Thorsten sollte mich so mal sehen.“
Von meinem Schwarm hatte ich ihr geschrieben. Aber ich glaubte nicht wirklich daran, dass ich eine Chance hatte, seine Aufmerksamkeit zu erregen, egal, wie ich geschminkt war.
Aoife wirbelte herum, fand meine Kleinbildkamera auf dem Nachttisch und blitzte mich an.
„So! Sollen wir ihm das schicken?“
Der Pub, in den sie mich führte, hieß ‚The Dancing Leprechaun‘.
„Was ist ein Leprechaun?“, wollte ich wissen.
„Ein kleiner Mann, der am Ende des Regenbogens sitzt und einen Topf voller Gold hütet.“
„Eine Märchengestalt?“
„Vermutlich. Ich habe noch nie nachgesehen.“
Wir kicherten und traten ein. Kaum hatten wir die Jacken aufgehängt, war Aoife von anderen Mädchen umringt. Es waren vier, etwa in unserem Alter, aber ich war mir nicht sicher, denn keine war sparsam mit Make-up umgegangen. Sie stellte mich ihnen vor, doch es ging zu schnell, um mir die Namen zu merken. Die Gruppe war aufwendig gestylt und trug ähnliche Kleidung: Zwei hatten Karottenjeans und überweite Shirts an, die von ihren Schultern rutschten, die anderen beiden Miniröcke mit pastellfarbenen Oberteilen.
Ich beobachtete meine Freundin mit ihnen. Die anderen sprachen sie oft an und berührten sie, um ihre Aufmerksamkeit zu behalten. Aoife drehte sich lachend mal in die eine, dann in die andere Richtung, wo sie ihrerseits Schultern klopfte und ihren Kopf neigte, um sich ins Ohr flüstern zu lassen. Offensichtlich war sie eines dieser beliebten Mädchen, mit der alle befreundet sein wollten. Kein Wunder, sie war hübsch, lustig, herzlich und reich. In Deutschland mied ich solche Gesellschaft, hier gehörte ich zu ihr. Sie sah sich immer wieder nach mir um, aber ihr Bienenschwarm zog sie mit sich. Mit einem entschuldigenden Blick winkte sie mir zu, ihr auf die Tanzfläche zu folgen. Es lief ein Stück von Salt’n’Pepa, zu dem ich mich gerne bewegte, danach folgten die ersten Töne eines Hits von Michael Jackson, den mochte ich weniger. Aoife sprang ausgelassen mit ihren Freundinnen herum. Sie tanzten alle auf die gleiche Weise, wie bei einer Choreografie. Sehr schick. Ich selbst hoffte immer, nicht aufzufallen, denn ich hatte Zweifel daran, dass ich auf der Tanzfläche eine gute Figur machte. Gerade kam doch noch ein bisschen Müdigkeit dazu. Hatte mich die Reise mehr erschöpft, als mir bisher klar war? Ich sah auf die Uhr. Es war 22 Uhr nach hiesiger Zeit, also 23 Uhr in Deutschland. Eigentlich kein Grund, um müde zu sein, doch eine Pause gönnte ich mir. Ich berührte Aoife am Arm und sagte ihr mit den Händen, dass ich zur Seite ging. Ihrerseits mit Gesten fragte sie, ob sie mich begleiten sollte. Ich schüttelte den Kopf und ging an den Rand der Tanzfläche.
Die Tische im Gastraum des ‚Leprechauns‘ waren entfernt worden, nur an der Theke gab es ein paar Barhocker. Die waren belegt, und so lehnte ich mich an die Wand. Das sah hoffentlich lässig aus. Etwa vierzig junge Leute drängten sich in dem kleinen Raum, so dass es mir vorkam, als wären es mehr. Hier am Rand zuckten keine bunten Lichter über die Decke, so dass ich den Typen neben mir unauffällig mustern konnte. Er war in meinem Alter, schlank, etwas kurzbeinig, weizenblond. Sein Gesichtsausdruck wirkte finster. Er lächelte nicht und unterhielt sich mit niemandem, wie die meisten anderen im Raum es sonst taten. Das machte mich neugierig, außerdem hatte ich nichts Besseres zu tun, und so sah ich ihn genauer an. Die Brauen und Wimpern hatten wie meine die Farbe seines Kopfhaars. Bei ihm allerdings waren sie so dicht, dass sein Gesicht dadurch klare Linien bekam. Er beobachtete Aoife und ihre Freundinnen.
„Ist das der Schlüssel zu deinem Herzen?“, säuselte es auf der anderen Seite neben mir. Ich legte die Hand auf den Kettenanhänger an meinem Hals. Der Kerl, der mich angesprochen hatte, war ein bisschen älter als ich, groß, dünn und blass. Scheinbar schien die Sonne hier zu selten für Sommerbräune.
„Nein, eigentlich ist das einfach nur Schmuck.“
Ich sah ihn mir genau an, denn es geschah nicht oft, dass ich in Kneipen angesprochen wurde. Deshalb hatte ich auch keine Ahnung, wie man darauf reagierte.
Plötzlich tauchte Aoife neben mir auf und zog mich zur Seite.
„Lass dich von dem nicht anquatschen, der versucht das bei allen.“
Schade, dann hatte ich wohl doch keine Eroberung gemacht.
Eine ihrer Freundinnen unterhielt sich mit dem finster dreinschauenden Jungen neben mir. Sein Blick war schon deutlich offener, man konnte beinahe ein freundliches Gesicht erahnen.
Aoife legte ihm eine Hand auf die Schulter, und ihr schenkte er tatsächlich ein Lächeln. Sie winkte mich zu ihnen.
„Das ist Conor, der Bruder von Lorna …“
Anhand ihrer Gestik war mir klar, dass es der Name der Freundin bei ihm war. Doch ehe ich etwas sagen konnte, quietschte die freudig, und mit dem Ausruf: „George Michael!“, zog sie Aoife wieder auf die Tanzfläche. ‚Faith‘ hatte sie so in Ekstase versetzt.
Conor betrachtete mich aufmerksam, es lag nichts Finsteres mehr in seinem Blick..
„Hi“, stammelte ich. Jungs gegenüber stellte ich mich häufig doof an, doch dazu eine ungewohnte Sprache, das ließ mich vollends wie einen Trottel aussehen.
Er sagte etwas, das mit meinem Namen endete. Mehr verstand ich leider nicht. Es war laut, und seine Aussprache war anders als die von Aoife und ihrer Familie. Hilflos und peinlich berührt lächelte ich ihn an. Er runzelte kurz die Stirn und sah wieder finster aus, doch dann lachte er und steckte mich damit an.
„Ich gebe mir Mühe, Englisch zu sprechen.“
„Wie redest du sonst?“, presste ich hervor.
„Dialekt. Wahrscheinlich versteht man nur die Hälfte.“
Ich wurde rot, denn tatsächlich hatte ich noch weniger begriffen. Er schöpfte tief Atem und sagte vorsichtig akzentuiert und laut, so dass ich ihm folgen konnte:
„Also, du bist Katrin.“
Okay, das war mir nicht neu.
Ich mochte seine Stimme und die Art, wie er die Worte betonte. Lebhaft, nicht so monoton wie viele der sehr coolen Jungs, selbst wenn er mit mir redete, als wäre ich schwer von Begriff. Ich fühlte mich sofort wohl mit ihm.
„Ja, woher weißt du das?“
Was für eine dumme Frage, vermutlich hatte mich meine Freundin gerade vorgestellt.
„Aoife redet oft von dir.“
„Oh“, entfuhr es mir. „Was erzählt sie denn so?“
Nun bekam auch ich ein Lächeln.
„Dass du aus Deutschland bist. Dass sie dich für einen sehr lieben Menschen hält. Wenn sie über ihre Pläne für diesen Sommer sprach, hieß es immer: ‚Katrin und ich‘.“
Das schmeichelte mir ungemein, doch ich vermied es, das zu zeigen.
„Was hat sie denn für Pläne?“, fragte ich, um abzulenken.
„Eigentlich keine. Sie wollte das mit dir gemeinsam überlegen.“ Nach einer Pause fügte er hinzu: „Was zu trinken?“
Ich nickte und nannte ihm die Marke einer Limo, für die ich Werbung hinter der Theke erkannt hatte. Wenig später brachte er mir meinen Wunsch und ein Glas dunkles Bier mit einer dünnen weißer Schaumkrone für sich.
„Guinness?“ Das verband ich mit Irland.
„Ja.“
Eine Weile dachte ich krampfhaft darüber nach, was ich sagen sollte.
„Woher kennst du Aoife?“, war meine wenig originelle Idee.
„Schwer, sich in Ballycarrick nicht zu kennen.“ Mit einem Schulterzucken fügte er hinzu: „Lorna.“
Danach fiel mir nichts mehr ein und wir schwiegen uns an. Conor lehnte locker an der Wand, ein Bein angestellt, und sah wieder den Tänzern zu. Das Bier hatte er auf eine Leiste an der Vertäfelung abgestellt. Er sah dabei wirklich lässig aus.
„Es ist gut, dass du da bist“, sagte er plötzlich, ohne mich anzusehen.
„Warum?“ Ich war verblüfft.
„Weil es Aoife freut.“
„Mögt ihr euch?“
Wieder so eine doofe Frage. Eigentlich hätte ich gerne gefragt: „Wie sehr mögt ihr euch?“, aber das war mir zu neugierig. Aoife hatte mir bisher von keinem Jungen erzählt, der ihr gefiel, Freund hin oder her. Mit Conor ging sie vertraulich um, kam ihm nahe und berührte ihn. Auf mich wirkte er interessant, ich wollte ihn näher kennenlernen. Dass sie für ihn anziehend sein musste, war für mich sonnenklar. Unmut regte sich in mir. Würde er mir die Aufmerksamkeit meiner Freundin klauen?
„Schon. Ich habe ihr mal die Haare zurückgehalten, als sie bei einer Party kotzen musste.“
Weiter führte er es nicht aus. Ich würde mich überraschen lassen müssen. Aber die beiden passten für mich gut zusammen, auch wenn ich nicht erklären konnte, weshalb.