Weißer Traum

Ich fühlte den Übergang vom normalen Schlaf in den weißen Blick wie eine Flamme, die meinen Geist erleuchtete. Früher hielt ich dieses Phänomen für einen Albtraum, der mich ängstigte. Im Laufe der Zeit lernte ich damit umzugehen und den Nutzen daraus zu ziehen. Vor dem inneren Auge sah ich einen Kreuzweg und ich musste die Entscheidung treffen, welche Richtung ich einschlagen sollte. Plötzlich zeigte mir ein helles Licht wie von einer Taschenlampe den Weg über eine Brücke, den ich vertrauensvoll einschlug. Er führte durch eine Wüste. Jetzt in der Nacht war es eiskalt, ich fröstelte.
Schließlich erreichte ich eine Pyramide. Das Spotlight wies mich auf einen verschobenen Felsen, der beinahe unsichtbar den Weg in das Monument freigab. Neugierig schob ich mich hindurch. Das Licht bleib bei mir und verlieh mir Mut.
Plötzlich hörte ich eine Stimme: „Hallo? Ist da jemand?“
Ich wandte mich in die Richtung, in der ich den Ursprung vermutete und antwortete: „Ja. Ich komme! Gleich bin ich da!“
Eine Mischung aus Seufzen und Schluchzen erklang. Die Erleichterung darin war unüberhörbar. Endlich sah ich einen Mann vor mir: Ich schätzte ihn auf etwa dreißig Jahre alt, die dunkelblonden Haare vermissten offensichtlich einen Haarschnitt, er trug eine dreckige Brille und hatte sich seit vielleicht einer Woche nicht rasiert. Die Füße steckten in Wanderschuhen, er war in Jeans und ein olivfarbenes Tanktop gekleidet. Gut gebauter Oberkörper, stellte ich fest, doch seine Schultern kippten nach vorne, als würde eine Last darauf liegen.
„Sind Sie in Nöten?“
Eigentlich war das eine rhetorische Frage. Die weißen Träume führten mich immer zu einer Person, die meiner Hilfe bedurfte. Aber wie sollte ich sonst an die notwendige Infos kommen. Und ich bekam sie jedes Mal. Es war eine Eigenheit der Träume, dass mir niemand mit Misstrauen begegnete.
„Ja. Ich bin vor etwa siebzehn Stunden hier in die Pyramide geschlichen. Als ehrgeiziger Archäologie-Doktorand war ich der Meinung, ich hätte vor zwei Tagen mit einem Ausgrabungsteam eine Abzweigung entdeckt, von der ich glaubte, sie könnte mich zu einer sensationellen Entdeckung führen. Wegen des Neids und des Misstrauens im Team sagte ich niemanden Bescheid, was ich vorhatte und alle glauben, ich sei nach Kairo zurückgereist. Es ist so unsagbar peinlich und stümperhaft, aber ich habe mich im Labyrinth verlaufen und nun sucht mich keiner. Eine entsetzliche Situation und dabei so lächerlich.“ Das Licht zeigte mir, wie er errötete.
„Ich bin zwar nur ein Traumbild, jedoch mit Wurzeln in der Realität. Nennen Sie mir Ihren Namen und wie ich die Person erreichen kann, die Sie am besten hier herausholt, und Ihnen wird geholfen werden.“
Er stieß einen tiefen Atemzug aus, seine Schultern sanken entspannt nach unten. Er gab mir die Antworten, ich wiederholte sie viermal, bis ich mir sicher war, sie mir eingeprägt zu haben. Dann verabschiedete ich mich mit der erneuten Zusicherung, dass er gerettet werden würde und konzentrierte mich darauf, aufzuwachen.
Wie durch einen Wirbel tauchte ich auf in das Dämmerlicht des anbrechenden Morgens in meinem Hotelzimmer. Auf dem Nachttisch lag das Handy. Ich schaltete die Glühbirne in der Lampe ein, um das Telefon genau sehen zu können. Trotz der frühen Stunde tippte ich die Nummer ein, die ich gerade auswendig gelernt hatte. Obwohl ich solche Erlebnisse in den letzten Jahren schon mehrmals bewältigt hatte, machte es mich noch immer aufgeregt und zufrieden. Ich wusste, ich bewegte etwas Wichtiges.
Und vielleicht hatte ich ja Gelegenheit, Lewis Emerson persönlich kennenzulernen. Das könnte interessant sein.