Vater

Diese Geschichte war für ein Magazin gedacht, in dem sich Autoren meines Verlags präsentieren durften. Leider wird es doch nicht erscheinen. Schade, ich hätte diesen Monat gerne auf mich aufmerksam gemacht.

Damit die Story nicht in der Schublade verstaubt, gibt es sie hier zu lesen.

Ein schönes Feedback, das ich von einer Testleserin erhielt:

„Du hast ein besonderes Herz für sexuell schräge Vögel, oder?“

Stimmt. Allerdings eher für schräge Vögel und unkonventionelle Charaktere im Allgemeinen.

 

Vater

Pia lag auf ihrem Bett und erinnerte sich an den siebzehnten Geburtstag ihrer besten Freundin gestern. Sarahs Papa hatte deutlich gezeigt, wie stolz er auf sie war. Es war Sarah peinlich gewesen, doch heimlich vertraute sie Pia an, wie sehr es sie freute. Seitdem fühlte es sich an, als würde das Loch in Pias Inneren gewaltsam erweitert. Es war an der Stelle, an der ihr Vater sein sollte.

Lange genug hatte sie es hingenommen, dass ihre Mutter sie hinhielt. Impulsiv stürmte Pia ins Wohnzimmer.

„Mama, erzähl mir von meinem Vater! Ich muss mehr über ihn erfahren. Sonst weiß ich nicht, wer ich bin. Dieses Mal lasse ich mich nicht wegschicken!“

Pias Mutter wirkte wie erstarrt. Schließlich murmelte sie: „Du hast nichts mit ihm zu tun. Es gibt keinen Vater.“

„Bist du die Jungfrau Maria?“, spottete Pia. Es war frustrierend, immer wieder auf dieselbe Weise abgespeist zu werden. Dabei erinnerte sie sich an ihren Vater, wenn auch nur verschwommen. Er war aus ihrem Leben verschwunden, als Pia fünf Jahre alt gewesen war.

„Natürlich nicht“, entgegnete ihre Mutter harsch und ging in die Küche.

Pia folgte ihr. „Ich werde nicht nachgeben!“

„Das wäre besser für dich!“

„Ich glaube nicht. Solange du mir nichts erzählst, wird nichts besser sein. Er ist das Geheimnis meines Lebens. Wenn er mich nicht kennenlernen will, sag mir bitte, warum.“

„So ist das nicht.“

Pias Mutter ließ sich auf einen Stuhl sinken. Ihr Gesicht wirkte abweisend, in ihren Augen konnte Pia Furcht erkennen.

„Warum darf ich nichts über ihn wissen? Ich bin alt genug“, versicherte sie mit Nachdruck. Ihre Stimme ließ sie einschmeichelnd klingen. Sie erinnerte sich, dass ihre Mutter gesagt hatte, sie würde ihr von ihrem Vater berichten, wenn sie älter wäre.

„Du gibst keine Ruhe, oder?“

Pia schüttelte den Kopf. Sie kannte den Ausdruck auf dem Gesicht ihres Gegenübers. Sie hatte gewonnen.

„Du hast tatsächlich keinen Vater mehr.“

Pia stöhnte. „Weil du das entschieden hast! Oder ist er gestorben, und du hast es mir nie gesagt?“ Bei dem Gedanken erschrak sie.

Ihre Mutter stieß angestrengt den Atem aus. „Er ist nicht gestorben, trotzdem ist er nicht mehr da.“ Sie rang offensichtlich nach Worten. „Dein Vater Ralf trägt heute den Namen Ramona und lebt als Frau.“

Die Worte hallten in Pias Kopf nach, bis sie den Sinn erfasst hatte. Dann lachte sie.

„Das ist die krasseste Ausrede, die ich je gehört habe. So ein Blödsinn.“

Ihre Mutter senkte den Kopf. „Das ist keine Ausrede. Ich brauchte selbst lange, um es zu begreifen.“

Sie wollte offenbar bei der absurden Geschichte bleiben.

„Wenn das so ist, gib mir seine Telefonnummer und Adresse. Oder ihre. Dann sollte ich ihn oder sie kennenlernen.“

Ihre Stimme klang höhnisch.

„Das geht nicht. Ich habe sie nicht. Ich will mit dieser Person nichts zu tun haben.“

„Mama, lass das und sei ehrlich!“

„Das bin ich. Du weißt, dass ich dich in wichtigen Dingen nicht belüge.“

Das war richtig. Bis nun, denn das konnte nicht sein. Wütend verließ Pia die Küche. Was hatte ihr Vater getan, das ihre Mutter nach zwölf Jahren noch immer so sehr gegen ihn aufbrachte, um eine derartige Geschichten zu erfinden?

 

Die Nacht bot Pia wenig Erholung. Sie schlief unruhig und fühlte sich am Morgen wie gerädert. Ein Kaffee und eine Schüssel Müsli halfen nicht. In ihrer Brust breitete sich ein Druck aus, der ihr den Raum zum Atmen nahm. Sie wollte nicht nachdenken. Also zog sie ihre Laufschuhe an und lief durch ihre Straße und die nächsten beiden zum Fluss. Dort rannte sie, bis ihre Lungen und Schenkel aus Feuer zu sein schienen.

Außerhalb der Stadtgrenze setzte sie sich am Ufer auf einen Felsen im Schatten eines Baumes. Es war ein sonniger Sommertag. Das Licht ließ die Farben der Landschaft leuchten. Mit der steigenden Sonne wurde es grell. Die Reflexion auf dem Wasser brannte sich in Pias Netzhaut. Sie schloss die Augen.

Der Druck in ihrer Brust war zu einer heiß-brodelnden Flut geworden. Warum erzählte ihre Mutter diese Geschichte? Machte sie sich über Pia lustig?

Oder entsprach sie den Tatsachen?

Pia wusste natürlich, dass es Transsexualität gab. In der Schule war darüber gesprochen worden. Sie hatte einen Fernsehbericht zu dem Thema gesehen, hatte einen reißerischen Bericht in einem Boulevardblatt gelesen. Es war für sie eine amüsante Kuriosität gewesen, nichts, was es in der Realität gab. Ihre Mutter hatte es in ihr Leben getragen. Pia war zornig.

Ihre Wut steigerte sich, als sie darüber nachdachte, wie lange es ihr verschwiegen worden war. Falls die Geschichte stimmte. Ihre Mutter war feige. Sie hatte kein Recht, Pia diesen Punkt vorzuenthalten.

Zorn auf den Menschen, der ihr Vater gewesen war, mischte sich in ihre Gefühle. Er hatte sie im Stich gelassen. Warum hatte er nicht gekämpft, um mit ihr in Kontakt zu bleiben? War sie so bedeutungslos für ihn?

War sie es nicht wert, dass er ihr Vater blieb?

Heiße Tränen stiegen in ihr auf. Sie wischte sie betreten mit dem Handrücken weg. Spaziergänger gingen vorbei und musterten sie unsicher.

Warum hatte er ihr keine Chance gegeben, etwas zu ändern? Um ihren Vater zu behalten, wäre sie die beste Tochter gewesen, die man sich vorstellen konnte. Sie hätte sich in der Schule angestrengt, hätte jeden Tag Cello geübt, eine halbe Stunde lang, wenn es ihm gefallen hätte. Pia hätte auf ihn gehört, hätte im Haushalt geholfen, wenn er das gewollt hätte. Hätte sie sich nur beweisen dürfen …

Ihre Gedanken drehten sich im Kreis. Stunden mussten vergangen sein. Ihr Mund war trocken, ihr Magen rumorte. Hunger? Nein, sie konnte nichts essen. Sie sollte aufstehen, etwas trinken.

Ihr Körper schien mit dem Felsen am Flussufer verwachsen zu sein. Sie ließen sich nicht voneinander trennen. Ihr Inneres fühlte sich schwer wie der Stein an. Sie würde hier sitzen bleiben, bis Sonne, Wind und Regen sie aufgelöst hatten. Das Gedankenkarrussel in ihr schien alle ihre Lebensenergie aufzusaugen. Ihre Seele war wund. Es tat weh. Ihre Arme zitterten. In ihrem Kopf war ein Jammern, das nur sie hören konnte. Sie konnte sich ins Wasser kippen lassen, und schnell wäre der Schmerz vorüber. Um nicht aufzutauchen, brauchte sie etwas Schweres. Einen großen Stein vom Ufer in die Hand nehmen? Nein, den würde sie loslassen. Steine in die Taschen? Die ihrer Laufhose waren zu klein, es passten nicht genügend hinein. Es würde ihr nicht gelingen. Sie taugte zu nichts. Nicht einmal dafür konnte sie Energie aufbringen. Sie war müde und schloss die Augen.

Das Sonnenlicht veränderte sich. Es wurde milder, wärmer, die Feuerkugel stand tiefer am Firmament. Pia blinzelte und sah sich um. Sie brauchte Wasser.

Nach Hause zu gehen kam nicht in Frage. Onkel Andreas. Wenn sie jemandem vertrauen konnte, dann ihm. Mühsam raffte sie sich auf und machte sich auf den Weg.

 

Andi blieb einen Moment in der geöffneten Tür stehen und sah sie an. Dass er sie nicht begrüßte, hatte etwas zu bedeuten. Er winkte sie in die Wohnung.

„Deine Mutter hat angerufen. Sie ist panisch vor Sorge um dich. Ich gebe ihr Bescheid, dass du bei mir bist.“

„Ich gehe nicht zu ihr.“

„Dann bleibst du hier. Sie soll nur aufhören, sich Sorgen zu machen.“

Pia widersprach nicht. Andi ging ans Telefon und rief seine Schwester an.

Ihr Onkel hatte nie geheiratet und eine Familie gegründet. In ihrer Kindheit hatten mehrere Frauen kurzzeitig sein Leben geteilt. Keine war geblieben. Stattdessen war er einer Vaterfigur für Pia am nächsten gekommen. Zu Weihnachten hatte er ihr gemeinsame Unternehmungen geschenkt. Er war mit ihr im Schwimmbad gewesen, im Klettergarten, sie waren ins Kino gegangen, einmal hatten sie eine Zirkusvorstellung besucht. Danach hatte sie bei ihm übernachten dürfen. Pias Geschenk war der Ausflug gewesen, das an ihre Mutter die freie Zeit. Andreas hatte ihr Fahrradfahren beigebracht, Schlittschuhlaufen und auf Inline Skates zu fahren. Er war nicht herzlich und warm, aber er war aufmerksam und für sie da.

Pia ging in die Küche und trank zwei Gläser Wasser. Andi kam hinzu und betrachtete sie schweigend. Er war kein Mann vieler Worte. Pia wusste, sie musste zuerst sprechen.

„Weißt du, was los ist?“

„Sabine hat mir gesagt, ihr hättet über Ralf gesprochen.“

„Weißt du, was sie mir gesagt hat?“

Ihr Onkel nickte.

„Hast du es gewusst?“

„Ich habe es heute zum ersten Mal gehört, als sie mir erzählte, du wärst verschwunden.“

„Glaubst du ihr?“

Andreas zögerte. „Ja, ich glaube ihr. Sabine hat nicht viel Fantasie. Ich kann dadurch manches einordnen.“

Pias Frust wich Neugier. „Was?“

Ihr Onkel sah gedankenverloren aus dem Fenster. „Ralf wirkte, als würde er eine Rolle spielen. Ich konnte mich nie mit ihm anfreunden, weil er mir nicht authentisch vorkam. Scheint, ich hatte recht. Dass er nach der Trennung völlig von der Bildfläche verschwand, konnte ich nicht verstehen. Jetzt erklärt sich das.“

Er sah sie abwartend an. Pia fehlten die Worte.

„Ich habe seit der Neuigkeit im Internet viele Artikel über das Thema herausgesucht. Magst du sie ansehen?“

So war Andreas. Er nahm sie nicht in den Arm und ließ sie sich ausheulen, sondern machte ihr einen praktischen Vorschlag. Pia nickte.

Sie begann mit nüchternen Berichten über die rechtliche Seite, überflog medizinische Details, die ihr unheimlich waren. Lange las sie Erfahrungsberichte. Väter waren darunter, deren größter Schmerz die Angst war, ihre Kinder zu verlieren. Es gab Ehepartner, die gingen und andere, die blieben. Kinder, die es akzeptierten, wenn aus dem Vater eine Frau wurde, aus der Mutter ein Mann, und andere nicht. Pia konnte ihre Augen nicht vom Bildschirm lösen. Andreas reichte ihr Pizzastücke und Gläser mit Wasser.

Um Mitternacht war sie zu müde für Informationen. Auf der Couch im Arbeitszimmer ihres Onkels fand sie Schlaf.

 

„Und nun?“, fragte Andreas. Er hatte ein üppiges Sonntagsfrühstück zusammengetragen mit einem gekochten Ei, Brötchen, Käse und Schokoladencreme wie in ihrer Kindheit. Pia fühlte sich verwöhnt.

„Was?“ Wenn sie selbst nur wüsste, wie es weitergehen sollte.

„Willst du deinen Vater kennenlernen?“

„Er ist kein Mann, also ist er nicht mein Vater“, stieß Pia hervor.

„Er mag sein Geschlecht geändert haben, aber er kann nicht ändern, dass er dein Vater war. Die Hälfte seiner Gene steckt in dir.“

Ihre Mutter hätte Pia zornig angegriffen. Andreas hörte sie zu und dachte nach.

„Ja, ich will ihn kennenlernen. Sie“, flüsterte sie. „Aber ich weiß nicht wie. Ich habe keine Adresse oder Telefonnummer.“

„Ramona Weimann dürfte kein häufiger Name sein. Vielleicht können wir etwas herausfinden.“

Sie fanden zwei Einträge im Telefonbuch in ihrem Teil Deutschlands. Andreas übernahm es, bei beiden anzurufen. Mit vorsichtigen Fragen fand er heraus, ob es die richtige Person war. Bei beiden hatten sie Pech.

Nachdenklich rührte er in einer Tasse Kaffee.

„Sagt dir der Namen Karsten Lichtner etwas?“

Pia sah ihn verblüfft an. „Nein, wieso? Ich dachte, wir suchen Ramona Weimann?“

„Karsten war Ralfs bester Freund. Ich wollte wissen, ob deine Mutter noch Kontakt zu ihm hat. Wenn dem nicht so ist, ist er vielleicht mit Ramona in Kontakt geblieben.“

Karsten Lichtner war einfacher zu finden. Andreas erreichte ihn. Nach dem Telefonat hielt er triumphierend eine Notiz in die Höhe: Die Anschrift und Telefonnummer von Ramona Weimann.

 

Zwei Wochen später:

Pia ging die letzten Meter von der Bushaltestelle zur Adresse ihres vermissten Elternteils. Sie hatte sich entschieden, es zu versuchen. Dreimal hatte sie das Telefon beiseitegelegt. Sie musste Ramona sehen und persönlich mit dem Menschen sprechen, der ihr Vater gewesen war.

Die Zugfahrt hatte eine Stunde und zwanzig Minuten gedauert. Hoffentlich war sie nicht umsonst.

Pia rieb sich ihren Unterarm. Die zarte Haut über dem Handgelenk war rot. Es hörte nicht auf zu jucken. Der Reiz schien an der Innenseite zu entstehen. So war es immer, wenn sie nervös war.

Wie würde Ramona reagieren, wenn sie vor ihrer Tür stand? Würde sie mit ihr sprechen? Pia hatte Angst. Die Aussicht, ihren Vater endlich kennenzulernen, hatte das Entsetzen, dass er eine Frau war, überlagert. Sie wollte ihn unbedingt sehen. Nein, wollte sie sehen.

Was würde sie in der fremden Stadt tun, wenn sie zurückgewiesen würde? Eine Minuten lang stand Pia vor dem Mehrfamilienhaus und starrte die Klingel mit dem Namen „R. Weimann“ an. Zitternd presste sie den Knopf.

„Hallo?“

Die Stimme klang weich und tief. Es war schwer zu sagen, ob sie männlich oder weiblich war. Sie war sanft und freundlich. Das machte Pia Mut. Sie wollte sprechen. Nur ein Krächzen ertönte. Sie räusperte sich.

„Pia Weimann hier.“

Ihr Namen sollte genug sein.

Pia zählte die Sekunden des Schweigens. Nach der Zahl Elf surrte der Türöffner.