Ohne Worte

Ich hatte es für eine gute Idee gehalten, zum Urlaubsbeginn, nach dem jährlichen Tanzverbot, mal wieder mit den Mädels auf die Piste zu gehe, die Nacht zum Tag machen. Doch nun zündete der Funken einfach nicht. Die im unruhigen Flackern der Lichter zuckenden Leiber, das laute, schrille Gelächter der anderen Frauen, alles ging mir mehr auf die Nerven, als dass es mich entspannte. Möglicherweise beschäftigte mich die endlose Projektkonferenz vom Vormittag mehr, als ich zulassen wollte. Mit welchen unsinnigen Nebensächlichkeiten sich die Projektmitglieder aufgehalten hatten und mir damit meine Lebenszeit stahlen … Wahrscheinlich war ich noch immer sauer.

Doch lieber nach Hause gehen? Ich sah auf die Uhr. Kurz vor Mitternacht. Das war lange genug für einen Abend, der mir keinen Spaß brachte. Die Mädels wären beleidigt, wenn ich ohne ein Wort verschwand. Zumindest verabschieden sollte ich mich. Dazu müsste ich die beiden auf der Tanzfläche stören. Noch konnte ich mich nicht dazu durchringen. Also ging ich zur Theke und erbrüllte mir einen Virgin Margarita gegen den Lärm. Kurz vor der Treppe zur Toilette, wo eine schummrige Lampe regelmäßige Beleuchtung bot, ergatterte ich einen Barhocker.

Stirnrunzelnd schob ich den Strohhalm zur Seite. Wenn ich schon einen Drink mit Salzrand nahm, wollte ich, dass mir der Geschmack des Gewürzes, gemischt mit der Zitrone, die Schuhe auszog. Zumindest diese Sensation konnte ich heute erleben. Es funktionierte. Mir zog es die Innenseite der Wangen zwischen die Zähne, meine Augen kniffen sich wie von selbst zusammen.

Als ich sie wieder öffnete, bemerkte ich einen Mund. Ich nahm nicht das Gesicht wahr, sondern das große, fröhliche Lachen, das umgehend auf mich übersprang. Erst dann sah ich mir den Menschen näher an. Der Mann schien etwa in meinem Alter zu sein. Die warmen, dunklen Augen funkelten mich übermütig an. Er saß mir diagonal gegenüber. In diesem Bereich des Clubs wurde man hin und wieder von Toilettenbesuchern gestört, ansonsten war es optisch ruhig. Akustisch war es etwas anderes. Die dröhnende Geräuschkulisse schloss einen Wortwechsel aus. Kontakt wollte ich aufnehmen, denn der Kerl war mir äußerst sympathisch. Er trug enge Jeans, darüber ein weites Band-T-Shirt einer Rockgruppe, die ich mochte. Die Füße steckten in auffälligen, fast neonblauen Schuhen. Ein cooles, lässiges Outfit! Dazu das ansteckende Lachen. Ich sah ihn mir näher an. Seine dunklen Haare könnten einen Schnitt vertragen, so dass es gerade noch nicht gewollt wirkte. Und diese Grübchen … Plötzlich war ich hellwach.

Er hob sein Glas, ebenfalls mit Salzrand. Mit spitzen Lippen saugte er die Kristalle ein, kippte das fruchtig-saure Getränk hinterher und imitierte meine verkniffene Miene. Wir teilten ein weiteres Lachen. Eine Klogängerin störte den Blickkontakt. Beide reckten wir den Hals, um uns baldmöglichst wieder anzusehen. Ich verzog das Gesicht zu einer missbilligenden Grimasse und deutete mit dem Kopf in Richtung Treppe. Hätte ich eine Chance, von ihm gehört zu werden, würde ich sagen: „Nicht der beste Platz hier.“

Er presste die Lippen leidend zusammen und hielt sich die Nase zu. Ich nickte verständnisvoll. Als Nächstes kam ein Hipster des Weges. Sein Gang wiegte gewollt männlich in Seemannsmanier hin und her. Die Züge hinter dem blonden Vollbart unter dem gepflegte Undercut mit Männerdutt am Hinterkopf wirkten sehr jung. Die Augenbrauen fielen besonders auf, bildeten den perfekten Rahmen für die Inszenierung. Er beachtete uns auf dem Weg zur Treppe nicht.

Ich konnte mir eine nonverbale Bemerkung nicht verkneifen und deutete meinem Gesprächspartner mit dem Pinzettengriff gezupfte Augenbrauen an. Er zog einen Mundwinkel spöttisch nach oben und grinste mich wissend an. Ein Blinzeln zeigte Humor.

Dem Kerl folgten drei kichernde junge Mädchen in extrem engen Hosen. Sie trugen ihre langen, glatten Haare auf dieselbe Weise offen über den Rücken, an allen Ohren funkelten Strasssteine, sie schienen sich sogar einen Lippenstift geteilt zu haben. Mein interessantes Gegenüber machte sich wohl ähnliche Gedanken. Mit der Handfläche fuhr er sich über das Gesicht, dann zählte er mit Daumen, Zeige- und Mittelfinger auf drei. Seine Augen sahen mit hochgezogenen Brauen verwundert aus. Ich nickte lachend. Ja, in dem Alter suchten Mädchen Schutz in Uniformität.

Auf diese Weise über die Clubgäste zu lästern machte mir Spaß. Würde er neben mir sitzen, müssten wir uns ins Ohr brüllen, um uns zu verstehen. So etwas verabscheute ich. Unweigerlich trafen einen irgendwann Tröpfchen am Ohr, und dann blieb einem nichts anderes übrig, als zu entscheiden, ob man sie abwischte oder der Harmonie zuliebe versuchte, den Ekel zu überspielen. Aber so gefiel es mir. Die Lust, nach Hause zu gehen, hatte mich verlassen.

Ich deutete auf sein T-Shirt, spielte einen Riff auf der Luftgitarre und zeigte ihm meinen erhobenen Daumen. Er strahlte und gab mir die Geste zurück. Dann amüsierten wir uns noch eine halbe Stunde lang über die Leute mit den mehr oder weniger dringenden Bedürfnissen. Dazwischen hielten wir immer intensiver Blickkontakt. Der Schwung seiner Lippen faszinierte mich. Ich konzentrierte mich, um sie nicht auffällig anzustarren. Aber ich befürchtete, er wusste genau, was in mir vorging. Doch das Lächeln wurde keineswegs arrogant, wie ich es bei anderen Männern erlebt hatte, wenn ihnen bewusst wurde, ich interessierte mich für sie. Im Gegenteil, es war warm, fast zärtlich.

Als sich eine größere Gruppe Toilettengänger zwischen uns schob, verloren wir den Blickkontakt. Entsetzt stellte ich fest, dass er weggegangen war. Ich sah mich suchend um. Erleichtert entdeckte ich ihn an der Theke. Sollte ich aufstehen und zu ihm gehen? Würde er mich so ansehen, wie die Zeit zuvor, wäre die Entscheidung einfach. So aber blieb ich sitzen. Wenig später schlenderte er auf mich zu. War der Mann sexy! Sein Gang hatte nichts Gezwungenes, war auf natürliche Weise kraftvoll und graziös. Ich schluckte. Die beiden Gläser bemerkte ich erst, als er mir mit diesem bezaubernden Lächeln eines in die Hand drückte.

„Danke!“, krächzte ich, obwohl ich wusste, er konnte es nicht hören. Er blinzelte herzlich und ging zurück auf den noch immer freien Platz mir gegenüber. Ich war enttäuscht. So reizvoll es war, sich wortlos mit ihm zu unterhalten, wünschte ich mir, ihn bei mir zu haben. Ich wollte wissen, wie er roch. Bei dem Gedanken stieg mir die Hitze ins Gesicht.

Vorsichtig nippte ich am Getränk. Da ich mit dem Auto nach Hause fahren musste, wollte ich keinen Alkohol trinken. Aber er hatte mich aufmerksam beobachtet. Auch diese Margarita war jungfräulich.

Gerade war der Strom auf der Treppe versiegt. Umso mehr Gelegenheit bot sich, uns zu mustern. Auch er sah mich lange und genau an. Ohne Zweifel, wir hatten bisher nicht miteinander gesprochen, und doch war da etwas zwischen uns. Meine Hand fuhr an die Brust, rieb sie, um den stockenden Atem in Gang zu setzen. Seine Augen folgten ihr, doch sie blieben nicht am Dekolletee hängen, wie bei anderen Männern. Wieder sahen wir uns an, als wären die Blicke Berührungen.

Nach einer Weile kam ein bekanntes Intro aus den im Raum verteilten Lautsprechern. Es war ein Dance-Remix der Band auf seinem T-Shirt. Er sprang auf, hielt mir auffordernd die Hand entgegen. Ich ergriff sie. Der erste Hautkontakt zwischen uns war elektrisierend, sein Griff sicher und bestätigend.

Er zog mich auf die Tanzfläche. Auch dort nahm ich den Körper des Mannes als kraftvoll und graziös wahr. Allmählich schlug mein Herz nicht nur wegen der Bewegung schneller. Ich bemerkte die wissenden Blicke meiner Freundinnen, die noch immer oder schon wieder tanzten. Sie begriffen, was gerade vorging und winkten mir zu, um sich zu verabschieden und mir ihren Segen zu erteilen.

Wir blieben zwei weitere Songs. Ich sah auf die Uhr. Es war bereits kurz nach drei. Die Zeit war verflogen. Der Club schloss um erst um vier, aber die Vernunft mahnte mich auf unangenehme Weise, bald den Nachhauseweg anzutreten. Ich wollte nicht. Der Mann folgte meinem Blick mit den Augen. Fragend sah er mich an und deutete auf die Uhr. Ich nickte verlegen, er zuckte mit den Achseln. Dann zeigte er auf sich selbst, auf mich und ließ die Finger in der Geste für „gehen“ spielen. Die Freude schnürte mir den Hals zu.

Gemeinsam gingen wir zur Garderobe, holten unsere warmen Jacken gegen die kühle Nachtluft Anfang April und verließen das Gebäude. Die Stille war erholsam. Ich wartete ab, ob er das Wort ergreifen würde. Er tat es nicht, doch ich fand, es war höchste Zeit für eine Vorstellung. Ich streckte ihm meine Hand entgegen.

„Hanna.“

Er ergriff sie. Seine Berührung ließ mich erzittern. Es war nur ein Händedruck, trotzdem fühlte ich mich, als hätte er mich umarmt.

„Sam.“

Wieder lächelten wir uns an, plötzlich nervös.

„Bist du mit dem Auto da?“, wollte ich wissen. Seine Antwort kam auf Englisch. Ich war zu verblüfft, um sie auf Anhieb zu verstehen. In der Schule hatte ich die Sprache gelernt, doch nun wendete ich sie nur noch ab und zu im Urlaub an. Bei der Arbeit gab es Übersetzer, wenn etwas nicht auf Deutsch geregelt werden konnte. Woher kam er? Ich dachte nach und legte mir die Worte zurecht.

„Where are you from?“

„Ireland, Limerick“, antwortete er knapp und sah mich entschuldigend an.

„Ah“, machte ich. Ein Ire. Egal, er gefiel mir und ich wollte mehr Zeit mit ihm verbringen.

„Do you have a car?“

Er schüttelte den Kopf. Sollte ich ihm anbieten, ihn nach Hause zu fahren? Aber eigentlich wünschte ich mir etwas anderes.

„Do you want to come with me?“

„I’d love to.“

Allein sein Gesicht zeigte mir enthusiastische Zustimmung, so dass es der Worte nicht bedurfte. Mit der Fernbedienung öffnete ich den gelben Kleinwagen.

Der Weg zu meiner Wohnung durch die Stadt dauerte etwa eine Viertelstunde. Um diese Uhrzeit gab es kaum Verkehr, doch Ampeln zwangen uns unnötigerweise zu Pausen. Er schwieg, doch das war mir nach der langen Musikbeschallung im Club angenehm. Die Blicke und Lächeln, die wir uns zuwarfen, zeigten, dass die Ursache nicht Verlegenheit war, sondern der gemeinsame Genuss der Stille. Seine Präsenz im Beifahrersitz fühlte ich wie elektrische Spannung. Ich wünschte mir, wir würden uns berühren, doch ich konnte mich nicht überwinden, die Initiative zu ergreifen. So ließ ich meine Hand am Schaltknüppel liegen, nahe an Sams Knie. Als er nach ihr griff, strahlte zuerst ich, dann er. Er hielt sie, bis ich vor dem Haus parkte, in dem ich wohnte.

Es war ein Dreifamilienhaus. Ich lebte unter dem Dach, darunter hatten zwei Familien ihr Zuhause. Als wir ausstiegen, blieben wir uns gegenüber stehen. Ich verkürzte den Abstand zwischen uns auf wenige Zentimeter. Den nächsten Schritt sollte er tun. Was ich wollte, war offensichtlich.

Er verstand. Sams Lippen fanden meine. Die Berührung war warm und zärtlich. Die Spannung in mir löste sich in einem Seufzen. Sein Gesicht sah glücklich aus, als er sich zurückzog. Dann streichelte er meine Wange mit dem Handrücken.

„Du bist suß.“

„Du sprichst Deutsch?“ Zumindest annähernd, und bei den Englischkenntnissen, mit denen ich aufwarten konnte, sollte ich nicht anspruchsvoll sein.

„It’s a first.“

Die ersten deutschen Worte, oder die ersten dieses Inhalts? Ich schaffte es nicht, die Frage auf Englisch zu formulieren, also entschied ich mich einfach für Letzteres.

Die Nacht war trocken, doch noch kühl, aber es war mir gleichgültig. Mir war heiß. Nur zwei Treppenabsätze über mir wartete mein Sofa im warmen Wohnzimmer, doch ich fürchtete, das falsche Signal zu geben, wenn ich ihn direkt mit mir dorthin nahm. Immerhin war es nicht das Schlafzimmer, aber dennoch …

Doch Sam schien mich zu verstehen. Er zog mich auf eine Bank, die in einer geschützten Nische vor dem Haus stand.

„Here?“, fragte er mich. Ich nickte und setzte mich. Die Nachbarn hatten Sitzkissen darauf ausgelegt, und so war es angenehm. Sam nahm Platz und rückte nahe an mich. Er schlang einen Arm um meine Taille. Ich legte den Kopf an seine Schulter. Sollte ich ihn wieder küssen? Oder ihn zuerst besser kennenlernen?

„Talk?“, fragte er und nahm mir die Entscheidung ab. In einem Wirrwarr aus Deutsch, Englisch und Gesten unterhielten wir uns.

Ich erfuhr, dass er seit sechs Monaten in der Stadt war als Gastdozent für Mathematik an der Universität. Insgesamt würde er zwei Jahre bleiben. Er war Anfang dreißig. Nach Deutschland hatte es ihn zum ersten Mal verschlagen, doch es gefiel ihm.

Aber mehr als über ihn selbst zu erzählen, wollte er von mir erfahren. Ich radebrechte eine Erklärung zu meiner Arbeit. Dann berichtete ich, dass ich mit Freundinnen im Club gewesen sei, erzählte von meiner Familie in dem kleinen Ort an der Schweizer Grenze und davon, wie ich die freie Zeit verbrachte. Obwohl die Worte oft fehlten, kamen wir uns nahe. Die ganze Zeit über wärmten wir unsere Hände ineinander.

Schließlich küssten wir uns wieder. Ich genoss es sehr. Als seine Zunge meine Lippen öffnete, hoffte ich, die Nacht würde nie enden. Doch uns bleiben nur wenige Minuten, ehe uns ein Räuspern unterbrach.

„Ich störe euch nur ungern, aber es ist unumgänglich …“, flüsterte mein Nachbar auf die Art, die klang, als hätte er die Stimme gehoben. „Ich habe mit meiner Frau ausgemacht, dass das Osternest für Sofia genau unter dieser Bank stehen wird. Wenn das nicht der Fall ist, kehre ich als Versager ins Bett zurück.“

Ich sprang auf und zog Sam mit mir. Der Familienvater aus dem Erdgeschoss trug Pantoffeln und einen Morgenmantel. In der Hand hielt er einen Korb mit Ostereiern, einem Schokoladenhasen und einem Bilderbuch.

„Sorry!“, rief ich. Sam sah verwirrt aus.

„What’s wrong?“

Ich deutete auf die Geschenke. Es dauerte lange, bis ihm ein Licht aufging. Vielleicht gab es in Irland weder Osterhasen noch Ostereier.

„Presents. Easter. His child“, mühte ich mich ab. Mein Nachbar schien weniger Schwierigkeiten zu haben. In flüssigem Englisch erklärte er den Brauch, Süßes für die Kinder zu verstecken, und plauderte mit Sam über seine Herkunft. Ich verstand alles problemlos, nur selbst hätte ich es nicht formulieren können.

„Sofia wird normalerweise schon gegen sechs wach, da muss ich mich sicherheitshalber um fünf Uhr an die Arbeit machen“, erklärte er mir auf Deutsch. „Warum sitzt ihr in der Kälte? Geht doch hinauf! Get inside into the warmth!“

„Good idea!“, antwortete Sam.

Danke für Deine Zeit, lieber Leser. Ich hoffe, Du hattest Freude an Hannas und Sams Geschichte. Hast Du das Gewinnspiel schon entdeckt?