„Die Frage“ und „Grübeleien“

Die Frage

Sie waren allein in ihrer Abteilung des riesigen Büroturms. Alle anderen hatten mehr oder weniger pünktlich Feierabend gemacht, nur Julius und Merle fanden immer weitere Aufgaben, die noch erledigt werden mussten. Sie wussten beide, sie warteten nur auf diese gestohlenen Augenblicke, die in den Abendstunden lagen. Doch nun ließ sich der Abschied nicht vermeiden. Ihr Freund Thorben hatte von Merle bereits per sms erfahren wollen, wie lange sie arbeiten wollte. Sie hatte ihm geantwortet. Der Zeitpunkt war erreicht.
„Du schaffst das?“, fragte Julius.
„Ja“, antwortete sie mit zitternder Stimme. „Heute sage ich ihm die Wahrheit.“

Zuhause zögerte sie, bevor sie den Schlüssel ins Schloss steckte. Was war das, die Wahrheit? Thorben und sie führten seit fünf Jahren eine Beziehung, die sie immer für glücklich gehalten hatte. Bis sie Julius kennenlernte. Zuvor war ihr nicht klar gewesen, zu welcher Leidenschaft sie fähig war. Nichtsdestotrotz war ihr Freund ein wunderbarer Mensch, dem sie nicht weh tun wollte. Wahrscheinlich machte sie den größten Fehler ihres Lebens und würde in einem Jahr mit gebrochenem Herzen, arbeits- und wohnsitzlos vereinsamen. Doch selbst wenn sie mit Julius nur eine Woche hätte, könnte sie nicht anders. Merle holte Luft und trat ein.
Sofort wurden ihre Augen von einem Tuch bedeckt. Eine Stimme sprach in ihr Ohr. „Vertraust du mir?“
Eine von Thorbens Überraschungen, ausgerechnet heute! Sie biss sich auf die Lippen. Sie sollte das Unvermeidliche nicht hinauszögern. Doch ihr Freund hatte so viel Spaß in den Momenten, in denen er ihre etwas Besonderes bot. Sie brachte es nicht übers Herz, ihm die Freude zu nehmen.
„Immer“, hauchte sie. Das war ihre übliche Antwort.
„Dann folge mir“, sagte er in gewichtigem Tonfall.
Blind fuhr Merle mit ihm für einige Minuten in seinem Auto. Er führte sie bedächtig und aufmerksam eine Treppe hinauf. Sie bemerkte den Luftzug, hörte die Wellen des Flusses. Sie standen auf einer Brücke. Hier nahm er ihr endlich die Augenbinde ab.
Sie waren an einem der romantischsten Plätze der Stadt. Hinter der Skyline ging die Sonne unter und tauchte das Wasser und die spiegelnden Fensterscheiben der Häuser in ein Farbenmeer.
Auf Thorbens ausgestreckter Handfläche lag ein Vorhängeschloss, in das die Buchstaben „M & T“ und das heutige Datum eingraviert waren. An der Brüstung der Brücke hingen bereits ähnliche Symbole.
„Willst du mich heiraten?“


Anfang August gab es nun die Fortsetzung:

Grübeleien

Merle hatte sich zu ihren Eltern geflüchtet, um sich mit ihren Gefühlen auseinanderzusetzen. Auf der Gartenbank unter dem großen Ahorn biss sie in einen Apfel.
Thorbens Frage gestern war wie ein Blitz in sie gefahren. Sie hatte es nicht geschafft, ihm von Julius zu erzählen. Nun fühlte sie sich beiden gegenüber schuldig. Sie war sich so sicher gewesen … Als sie ihrem langjährigen Partner dann in die Augen sah, seine Hingabe wahrnahm und an all das Vertrauen fühlte, das zwischen ihnen stand, hätte sie weinen wollen. Das Vertrauen, das er so ungerechtfertigterweise in sie setzte.
Tränen schossen auch jetzt in ihr auf. Mit der Hand wedelte sie eine Biene weg, die das süße Obst roch. Sie fächelte sich Luft zu, damit ihre Augen trocken blieben. Das Gefühl, beide zu hintergehen, brannte wie Feuer in ihrer Brust.
Thorben? Julius?
Sie wiegte sich vor und zurück und fand Beruhigung in der Bewegung.
Sie liebte beide, jeden auf eine andere Art. Durfte es so etwas geben? Wie auch immer, es führte zu Schmerz, bei ihr und bei den Männern.
Was für ein Mensch war sie, dass ihr Herz ihr nicht klar sagte, wer der Richtige für sie war?
Eine Stunde lang saß sie unbeweglich da, allein ihre Gedanken rasten. Zu einer Entscheidung kam sie nicht. Merle wusste, auf irgendeine Weise musste es weitergehen.
Schließlich gab sie sich einen Ruck. Die Würfel waren gefallen.
Zu wählen war unmöglich. Wenn sie nicht mit beiden zusammensein durfte, konnte sie keine Beziehung aufrecht erhalten. Es ging nicht anders. Sie würde sowohl Thorben als auch Julius sagen, dass es aus war, dass sie es nicht schaffte, sich auf die Art und Weise auf sie einzulassen, die sie brauchten.
Der Gedanken schnürte ihr den Hals zu. Sie versuchte, sich aufzumuntern durch den Spruch, den ihre englische Oma ihr häufig sagte: „There are too many fish in the sea.“ Es gibt zu viele Fische im Meer. Dann musste sie ihren eben weiter suchen.