Anstehen in Leipzig

Mein Körper signalisiert mir sanft, dass mein Morgentee in absehbare Zeit Frischluft bedarf. Zeit, mich in die Schlange zu stellen. Sie endet unter dem ersten blauen Schild mit den steifen Männlein/Weiblein-Icons.

Kann das sein? Eine unisex-Reihe? Aber wozu sonst sollte eine gefühlt dreistellige Anzahl an Personen in einem Gastronomie-Bereich der Messe schicksalsergeben Schlange stehen? Der Mauerfall war vor siebenundzwanzigeinhalb Jahren. Schlangestehen dürfte aus der Mode geraten sein.

Ein Sprung nach vorne! Die Männer vor mir haben wahrgenommen, dass sie zum glücklichen Geschlecht in derartigen Momenten gehören. Sie geben ihre Wartepositionen zugunsten sofortiger Bedürfniserfüllung im weniger stark frequentierten Raum mit dem Männchen an der Tür auf.

Hurra! Ich kann um die Ecke sehen! Enthusiastisch teile ich es den Unglücklichen hinter mir mit. Sie sehen mich an, als wäre mein psychomentaler Zustand zweifelhaft. Vielleicht haben sie mein wahres Selbst erkannt? Oder sie sind neidisch.

Der Gang vor mir ist lang. Die Schlange auch.

Ich rücke der Frau vor mir auf die Pelle. Lücken in Warteschlangen verabscheue ich. Sie sind der Tod der süßen Hoffnung. An dieser Stelle wäre jedoch eine angebracht, ich blockiere die Tür mit dem Männchen. Ich habe einen inneren Zielkonflikt darüber, wie ich ein besserer Mitmensch bin. Lösung: Ganz nah am Rucksack der Vorderfrau kleben. Sie ist irritiert.

Es geht schnell vorwärts. Der Abstand wird züchtig.

Die Frau vor mir hat halblange, dunkle, glänzende Locken. So habe ich Dani beschrieben. Sieht Dani so aus? Nein …

Die Vorderfrau sieht durchschnittlich aus und ist pummelig. Meine Beschreibung von Dani. Also doch?

Später schrieb ich, Dani sei hübsch. Die Frau vor mir nicht. Oder doch? Im Spiegel an der Wand sehe ich sie näher an. Eigentlich ist sie recht hübsch, nur ungeschminkt. Ich schelte mich für meine Arroganz.

Sie ist etwa zwanzig Jahre jünger als Dani. Na bitte, das ist der Unterschied.

Ein Spiegel an der Wand des langen Ganges. Wahrscheinlich erfüllt er denselben Zweck wie Spiegel in Aufzügen: Panik durch Klaustrophobie vermeiden.

Endlich! Ich darf in den Raum des Begehrens treten! Vor mir zwängt sich eine Reinigungsfachkraft durch. Sie und ihre Kolleginnen sind sehr effektiv. Der Raum blitzt. Es ist ruhig, die Frauen sind geduldig. Welch Oase! Ich bin glücklich am Ziel.

Die lustigen Extrem-Handtrocknungsgeräte, die den Speck auf meinen Händen auf und ab schieben, passen zum Standard. Ein rundum schönes Erlebnis.

Danach brauche ich eine Latte Macchiato. Schlange stehen. Die Verkäuferin verbreitet militärischen Drill. „Wer in der Schlange will ein Heißgetränk? WER WILL EINEN KAFFEE? Nein, sie nicht, bis sie dran sind, isser kalt.“

Während ich trinke, schreibe ich diesen Text.

Kaffee ist harntreibend. Ich gehe mich mal anstellen …